Man muss schon etwas dafür tun, um das regionale Weltsozialforum (WSF) von Caracas besuchen zu können. Eine der wichtigsten Brücken des Landes, die den internationalen Flughafen an der Küste mit der Hauptstadt verbindet, kann jeden Moment einstürzen und ist deswegen seit dem 11. Januar gesperrt. Bis zu drei Prozent Wirtschaftswachstum könnte der geschlossene Übergang nach Meinung von Wirtschaftsexperten kosten, denn außer dem Airport sind auch der Containerhafen in La Guaira und die bei einheimischen Touristen beliebte Küste praktisch unerreichbar geworden.
Teilnehmer des Weltsozialforums müssen deshalb auf dem Weg nach Caracas Umleitungen durch gefährliche Barrios in Kauf nehmen. Bis zu fünf Stunden kann die Fahrt dauern. "Alles die Schuld von Chávez", schimpft einer aus der Gilde der Taxifahrer, die wie gewohnt alles, was schlecht ist, auf den Präsidenten schieben - auch wenn sie bestens verdienen an den verlängerten Touren. Wer zwischen Flughafen und Kapitale unterwegs ist, muss augenblicklich umgerechnet bis zu 70 Euro pro Person bezahlen. Für die Fuhrunternehmen beste Geschäftsaussichten in den Tagen des Weltsozialforums mit seinen über 100.000 Gästen.
Wer glücklich in Caracas angekommen ist, merkt es vermutlich nicht sofort, doch der Durchschnitts-Caraquenio hat es seit ein paar Wochen schwer, es gibt keinen Kaffee mehr in Straßenläden und Supermärkten. Die Regierung hat einen Höchstpreis pro Kilo festgelegt, um damit die Kundschaft "gegen kapitalistische Ausbeutung zu schützen", wie es heißt. Vorläufig aber sind die Konsequenzen alles andere als verbraucherfreundlich - die Produzenten greifen zum Boykott, weil sie für den nach unten gedrückten Festpreis nicht mit Gewinn produzieren können, und beschneiden das Angebot drastisch.
Auf einstürzende Brücken und fehlenden Kaffee sind die Caraquenios nicht stolz, dafür aber mehrheitlich auf das Weltsozialforum, das in ihrer Stadt bis zum 29. Januar stattfindet. In diesem Jahr eines von drei regionalisierten Foren, auf die sich die Veranstalter geeinigt haben - das erste fand bereits vor wenigen Tagen in Bamako, der Hauptstadt Malis, statt. Das dritte wird Asien vorbehalten sein, aber erst im April in der pakistanischen Metropole Karatschi über die Bühne gehen.
Die Chancen stehen gut, dass die Partie in Lateinamerika die höchsten medialen Wellen schlägt, denn Hugo Chávez und Boliviens gerade vereidigter Präsident Evo Morales haben ihre Teilnahme angekündigt. Vor allem die Präsenz des venezolanischen Staatschefs bürgt für spektakuläre Aussagen in Richtung Imperialismus und nordamerikanisches Imperium.
Ansonsten bleibt dieses Treffen, was es immer war: eine aufregende Diskutierveranstaltung auf der jeder eigene Ideen und Träume präsentiert. Lateinamerikaner haben dafür bekanntlich eine besondere Vorliebe. Allein die in Caracas vertretenen Nichtregierungsorganisationen veranstalten über 2.000 Workshops, die sechs Themenfeldern gewidmet sind - von "Alternativen zur Raubtier-Zivilisation" über "imperiale Strategien und den Widerstand der Völker" bis zum Komplex "Verschiedenheit, Identitäten und Weltsicht in den Bewegungen". Trotz der zweifellos gewichtigen Themen faszinieren die Titel der Hearings nicht sonderlich, ausufernde Debatten garantieren sie gewiss.
Die Linke in Lateinamerika fühlt sich auf dem Vormarsch, mit Michelle Bachelet als neuer, sozialistischer Präsidentin Chiles nun erst recht. Weitere Ermutigungen zeichnen sich ab, mit den noch in diesem Jahr anstehenden Wahlen in Mexiko und Peru sind ebenfalls Erfolge linker Politiker und Parteien denkbar. Von daher konnte es nur sinnvoll und richtig sein, ein Weltsozialforum nach Venezuela zu vergeben, empfiehlt sich dieses Land doch als eines der experimentierfreudigsten politischen Laboratorien weltweit. Deshalb sind auch deutlich mehr Nordamerikaner in Caracas als bei den vorangegangenen Welttreffen in Porto Alegre (Brasilien) oder Mumbai (Indien). "Das entscheidende Motiv unseres Besuchs ist es, die venezolanische Realität besser zu verstehen, damit wir in den Vereinigten Staaten der ständigen Medienhetze gegen Chávez etwas entgegen setzen können", meint Zach Hurwitz von der Menschenrechtsorganisation Global Exchange aus San Francisco. Jacobo Torres de Leon, einer der Koordinatoren des Forums, ist der gleichen Meinung. "Die große Attraktion, die Caracas bietet: die Teilnehmer können sich mit eigenen Augen davon überzeugen, was hier im Augenblick passiert."
So kann es nicht verwundern, wenn das Forum von der Regierung Chávez umarmt und finanziell unterstützt wird. Die Frage ist nur, inwieweit das der Unabhängigkeit des ganzen Unternehmens dient. Bisher waren die Akteure eines Weltsozialforums traditionell darauf bedacht, sich von Politikern fern zu halten. Andererseits ist Hugo Chávez für einen Großteil der Anwesenden eine Kultfigur und ein begnadeter Redner, der die Massen elektrisieren kann, wenn er will. Eine Ikone eben, wie es sie in der kurzen WSF-Geschichte so noch nie gab.
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