Meine Socken, deutet der Kommandant an, die solle ich auch ausziehen. Wer weiß, was ich da alles versteckt habe. Auch die Reisetasche müsste geleert werden. Und wo kommen diese Dollars her?
Es ist ein langer Weg, von Venezuela ins Nachbarland Guyana. Direkte Flugverbindungen gibt es ebenso wenig wie offizielle Übergänge entlang der über 500 Kilometer langen Landesgrenze. Wer nach Guyana will, nimmt am Montag-, Mittwoch- oder Freitagmorgen auf dem Terminal del Este im Osten von Caracas den Caribebus Richtung Manaus in Brasilien. Nach 30 Stunden steigt man in Boa Vista im brasilianischen Norden aus, es sei denn das venezolanische Militär an der Grenze will jedes Gepäckstück in Augenschein nehmen und jede Flasche Sonnencreme aufgeschraubt sehen - dann kommen noch ein paar Stunden dazu. Drogenschmuggel ist das große Geschäft in dieser Ecke des Subkontinents, das wissen auch die Grenzposten. Und allein reisende junge Männer sind immer suspekt.
Von Boa Vista aus muss der Guayana-Reisende schließlich den Bus nach Bonfim nehmen, dem Grenzort zwischen Brasilien und Guyana, und die Reise durch eine beeindruckend menschenleere Gegend im Norden Brasiliens auf sich nehmen. Der Himmel ist hoch und dunkelblau, wirkt beängstigend und färbt sich in der Ferne fast schwarz, weil sich eine enorme Regensäule über dem Vorland des Amazonas aufgebaut hat.
Es ist mitten in der Nacht, als ich in Bonfim ankomme, aber ein Minibus bringt mich noch zur Grenze. Als ich aussteige, bin ich allein. Hundert Meter weiter entlässt mich ein brasilianischer Zöllner mit einem Passstempel in die Fremde. "Da entlang geht es zum Tacutu-Grenzfluss", deutet er vage in die Finsternis. Ich sehe nichts und laufe weiter. Trotz ständigen Regens ist es erstickend heiß. Nach einigen hundert Metern sehe ich schwache Flammen unter dem Vordach einer Hütte am Fluss. "Wanna go to Lethem?", werde ich auf Englisch gefragt und bin dabei, das ehemalige britische Commonwealth zu betreten.
Das kleine Motorboot muss bei seiner Fahrt über den Grenzfluss ständig riesige Betonsäulen umschiffen, die in absehbarer Zeit, wie ich später erfahre, eine Brücke zwischen Brasilien und Guayana tragen sollen. Ansonsten sehe ich nichts im Dunkeln. Ich fühle mich wie auf dem Nung-Fluss zwischen Südvietnam und Kambodscha in Coppolas Film Apocalypse now. Es gibt zwar eine Art Baldachin, aber das Wasser weht mir unablässig ins Gesicht. Am anderen Ufer lässt mich der Bootsmann zwischen ein paar Bäumen aussteigen. "Wo ist Lethem?" - "Immer da entlang", winkt er vieldeutig und verschwindet. Regen. Hitze. Schlamm. Finsternis - Guyana.
Aufruhr der Schotten
Wer nach Lethem reist, betritt Guyana quasi durch die Hintertür, denn etwa 95 Prozent der Bevölkerung leben an der Atlantikküste im Norden. Das Land ist fast so groß wie die ehemalige Kolonialmacht Großbritannien - dort zählt man allerdings fast 60 Millionen Einwohner .
Das Zentrum von Lethem wird von einem "Airstrip" gebildet. Ein Airstrip ist kein Airport, sondern eine Sandpiste, auf der jeden Tag ein kleines Postflugzeug aus der Hauptstadt Georgetown mit Paketen, Zeitungen und Gerüchten landet. Manchmal auch nicht, dann wartet man einfach und hofft auf den nächsten Tag. Vor 36 Jahren traf hier per Flugzeug eines der Gerüchte ein, über die unter Umständen sehr schnell jede Kontrolle verloren gehen kann. Um zu verstehen, was damals, im Juli 1969, passierte, muss man wissen, dass im Süden Guyanas, in der Rupununi-Savanne, die Lethem umgibt, seit dem 19. Jahrhundert einige Dutzend schottische Viehzüchter siedelten und riesige Rinderfarmen unterhielten. Das Vieh wurde stets nach Lethem getrieben, geschlachtet, versteigert und verkauft. Die "Rinderschlacht von Lethem" sicherte den Schotten aus der Savanne den Kontakt zur Außenwelt. Mehr wollten sie nicht, die Ruhe in ihrem Refugium war ihnen heilig.
Vor 36 Jahren allerdings erreichte die Viehzüchter das Gerücht, die Regierung im fernen Georgetown wolle sie künftig strenger beaufsichtigen. Erst regte sich Protest, dann brach eine Meuterei los. Die Schotten nahmen sämtliche Polizisten von Lethem fest und sperrten sie ins Schlachthaus neben der erwähnten Sandpiste, dann ließen sie das Vieh auf dem Airstrip grasen.
Nachdem die Aufrührer in angetrunkenem Zustand auch noch ein Militärflugzeug im Anflug beschossen und verfehlt hatten, wurden sie ein paar Tage später überwältigt und verhaftet. Einige wenige entkamen nach Brasilien, die meisten wanderten ins Straflager und wollten danach, als die Jahre des Martyriums vorbei waren, nur noch ein abgeschottetes Leben in der Einsamkeit des Südens von Guyana führen. Revolution und Anarchie hatten sie abgeschworen.
So sind die Wildwestzeiten von Lethem lange vorbei. Statt mit aufständischen Viehzüchtern haben es die Bewohner des Fleckens heutzutage mit begehrlichen Brasilianern zu tun. Shirley Melville, die Eigentümerin von Lethems einzigem Internetcafé - einer Rettungsboje für alle in Süd-Guyana Gestrandeten - ist davon überzeugt, dass in den vergangenen Jahren etwa 10.000 Brasilianer eingewandert sind. "Sie kommen hierher, um in den Goldminen und der Holzindustrie zu arbeiten. Sieh heute Abend in den Nachtbus nach Georgetown, und du wirst begreifen, was ich meine."
Die Brasilianer werden auch die Brücke über den Grenzfluss bauen. "Gerade war der Gouverneur aus Boa Vista hier und hat angekündigt, dass Pioniereinheiten den Übergang bis Oktober vollenden werden." Dieser Brückenschlag liegt vorrangig im Interesse Brasiliens, das sich nicht nur als Schwellenland des Fortschritts empfindet und dem verarmten Guyana großmütig unter die Arme greift, sondern den Weg nach Georgetown vor allem als unverzichtbare Handelsroute zum Atlantik geebnet sehen will.
Brasilien nimmt erkennbar mehr Einfluss auf den Süden Guyanas als Venezuela, von dem die Leute in Lethem trotzdem mit mehr Furcht sprechen, denn Venezuela beansprucht das Territorium westlich des Essequibo-Flusses. Ende des 19. Jahrhunderts konnte der dortige Grenzverlauf wegen Differenzen zwischen der britischen Kolonialadministration in Guyana und der venezolanischen Regierung nicht eindeutig festgelegt werden, so dass Caracas heute Ansprüche erhebt, die in Georgetown auf keinerlei Gegenliebe stoßen. Warum schielen die Venezolaner auf dieses nahezu unbewohnte Gebiet im Westen Guyanas? "Ganz einfach", meint Shirley Melville, "sie wissen, was da alles im Boden steckt: Gold, Bauxit, Diamanten, Öl. Außerdem wächst dort etwas, das sie nicht kalt bleiben lässt: tropisches Hartholz."
Zuversicht des Ministers
Nach einer Busreise von 16 Stunden für 400 Kilometer komme ich am nächsten Nachmittag in Georgetown an, gerade rechtzeitig zum Independence Day. Etwas außerhalb des Zentrums, in der Vlissengen Road, zieht die Parade zum 39. Jahrestag der Unabhängigkeit vorbei. Die Straße ist nach der Stadt im niederländischen Zeeland benannt, so dass ich mich als Holländer fast wie zu Hause fühle.
Der Umzug erinnert an einen Karneval. Auf offenen Wagen fahren verschiedene Steelpanbands vorbei, die auf riesige Blechtonnen hämmern. Hunderte von Schwarzen, Indern und Amerindians, die Ureinwohner von Guyana, tanzen am Publikum vorbei. Dabei gibt es, 39 Jahre nach der Unabhängigkeit, nicht sonderlich viel zu feiern, erzählt mir Mike Munian, der vor 25 Jahren nach Toronto in Kanada ausgewandert ist. "Ich bin gegangen, weil ich Probleme mit der Regierung hatte. Damals regierte Forbes Burnham, der ein sozialistisches Land aus Guyana machen wollte, das waren harte Zeiten."
Munian ist auch nicht gut auf die heutige Lage zu sprechen. Das Land ist politisch und ethnisch geteilt. Die Progressive People´s Party (PPP) hat die Macht und wird sie vorläufig nicht abgeben, handelt es sich doch um die Partei der Inder. Ihr Gegner ist der People´s National Congress (PNC), die größte Oppositionskraft und traditionell die Partei der Schwarzen. Der Rassismus zwischen beiden Bevölkerungsgruppen köchelt gefährlich vor sich hin. "Wir leben zwar in einem Land", sagt Munian, "aber mit streng voneinander abgeschirmten Volksgruppen. Die Briten hätten das nie zugelassen."
Ich frage ihn nach seiner Meinung zu den Ansprüchen Venezuelas gegenüber Guyana, und er winkt genervt ab. "Hugo Chávez war Anfang 2004 hier und hat angedeutet, dass sich seine Regierung nicht länger unseren Investitionen im Gebiet westlich der Essequibo widersetzen wird. Damit hat sich die Lage beruhigt. Außerdem ist Chávez hier ziemlich beliebt, weil bekannt ist, dass er viel für die Armen in seinem Land tut."
Hans Beher, ein ehemaliger deutscher GTZ-Mitarbeiter in der Karibik, der seit 15 Jahren in Georgetown lebt, zeichnet gleichfalls kein sonderlich aufmunterndes Bild. "Die Ökonomie ist einfach zu unbeweglich. Guyana ist vom Export seiner Zucker- und Reisproduktion abhängig. Die EU, einer der größten Abnehmer, wird in den nächsten Jahren aber weniger als je zuvor für diesen Agrarhandel zahlen. Das hätte man vorhersehen können, es hätten längst Alternativen entwickelt werden müssen. Stattdessen baut die Regierung für 120 Millionen Dollar eine neue Zuckermühle im Osten. Pure Verschwendung."
Auch für Beher ist das Verhältnis zwischen den Volksgruppen bedenklich. "Die Inder bevorzugen eine Bunkermentalität. Inder kaufen bei Indern. Inder investieren bei Indern. Inder nehmen nur Inder in Dienst - die Schwarzen sind für sie potentielle Diebe. Ein völlig ungerechtfertigtes Vorurteil, die sind viel weltoffener, so dass man ihren fehlenden Einfluss auf die jetzige Regierung nur bedauern kann."
Laut Beher ist Guyana das einzige Entwicklungsland der Welt, in dem die Bevölkerung nicht zu-, sondern abnimmt. "Es gibt hier keine Zukunft. Jeder, der etwas kann, geht nach New York, Toronto oder London. Da stößt ein Land mit 700.000 Einwohnern schnell an seine Grenzen. Wahrscheinlich ist die tatsächliche Bevölkerungszahl ohnehin längst geringer als offiziell angegeben. Eine WHO-Studie spricht von 450.000, was die Regierung natürlich sofort zurückgewiesen hat."
Zu allem Überfluss säuft Guyana auch noch ab. Anfang des Jahres war die Hälfte der Küstenregion überschwemmt, deren Wasserhaushalt noch immer von dem Schleusen- und Poldersystem abhängt, das einst niederländische Ingenieure im Auftrag der Briten bauten. "Jetzt rächt sich, dass jahrelang nichts geschah, um dieses System zu erhalten", meint Hans Beher. "Man muss inzwischen ernsthaft in Erwägung ziehen, ob nicht Zehntausende aus dem Küstenstreifen umgesiedelt werden sollten. Aber das Thema ist tabu."
Beher befürchtet 2007 auch einen logistischen Crash während der Cricket-Weltmeisterschaft, die dann teilweise in Guyana stattfinden wird. "Es werden über 50.000 Gäste erwartet. Das Cricket-Stadion muss aber noch gebaut werden. Und es gibt viel zu wenig Hotelbetten, um die Gäste unterzubringen! Aber der Sportminister meint, er werde das schon organisieren, von seinem Büro aus, zusammen mit seiner Sekretärin, hat er mitteilen lassen."
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.