Es ist heiß auf dem Weg nach Hato El Charcote, der Riesenranch im venezolanischen Bundesstaat Cojedes 200 Kilometer südwestlich von Caracas. Ich bin unterwegs in die Llanos, die traditionellen Viehzuchtgebiete Venezuelas. Im Bus knallt Salsa-Musik aus den Boxen. Während eine zweifellos talentierte Sängerin schrill und rhythmisch "Uh! Que rico! Uh! Que sabroso! (Oh, wie lecker! Oh, wie schmackhaft!) stöhnt, knattert das Gefährt mit hundert Sachen an Benzinlastern, Straßenhändlern und Hühnerscharen vorbei.
Nachdem das Städtchen Tinaquillo passiert ist, wird die anfangs eher hügelige Landschaft flach und flacher, ein untrügliches Zeichen dafür, die Llanos erreicht zu haben. Im Straßenbild tauchen die ersten Llaneros auf, straffe, zähe Männer in Reitstiefeln und mit Cowboyhüten. Auch der Busfahrer hat inzwischen getan, was er schon längst hätte tun sollen, er schaltet sein Bordradio auf Llanero-Musik um, die weder mit venezolanischem Salsa noch Merengue noch irgendetwas anderem zu vergleichen ist. Llanero-Musik klingt wie ein über die Jahrhunderte gereifter Rap: ein Sänger singt schnell und endlos Geschichten über Heimat und Leben herunter, oft nur von Gitarre, Harfe und Rasseln begleitet. An den langen, einsamen Abenden in den Llanos ist es üblich, dass sich die Männer gegenseitig herausfordern und den kleinen Faden herausziehen, der ihnen tagsüber die Lippen verschließt: wer singt am schönsten, am schnellsten, am längsten?
Gegen 11.00 Uhr, kurz vor der Stadt San Carlos, ist die Reise mit dem Bus Nr. 039, dem fröhlich blauweiß gestrichenen Caterpillar Bluebird des Jahrgangs 1965, vorzeitig zu Ende. Beißender Qualm strömt ins Innere, alle Passagiere stürzen heraus, auch die junge Frau mit den grauen Haaren aus der Bank vor mir. "Der Bus brennt!", beschreibt mein Nachbar im T-Shirt mit Che und der Aufschrift "La revolución avanza" (Die Revolution schreitet voran) sehr treffend den Vorgang.
Eine Minute später stehen 50 Passagiere im Staub der Straße zwischen Gepäck, leeren Bierkästen und einem wackeligen Marktstand, an dem Bananen verkauft werden. Ein anderer Bus hält, der Chauffeur springt heraus, bringt den Feuerlöscher, und unser Fahrer wirft sich wie ein echter Held mit dem Gerät in der Hand unter sein Fahrzeug. Nach einer Weile werden die Rauchschwaden am rechten Hinterreifen dünner. "Fertig!" ruft er stolz. Ich nehme doch lieber den anderen Bus.
Die Llanos sind - wie die Pampa für Argentinien - Venezuelas nationale Fleischfabrik. Von den Duellen der Llanero-Sänger abgesehen, passiert hier in der Regel nicht viel. Im Augenblick allerdings herrscht Ausnahmezustand. Präsident Chávez hat den Latifundisten, den Großagrariern, den Krieg erklärt. Ländereien, bei denen die bisherigen Eigentümer nicht beweisen können, die legitimen Eigentümer zu sein, sollen an landlose Bauern verteilt werden. Landwirtschaftlich nutzbare Böden, die brachliegen ebenfalls. Das klingt für die eingesessenen Rancheros schlimmer, als es ist. Nach dem Agrarreformgesetz von 2001 müssen die Enteignungen wie Verkäufe zu den marktüblichen Preisen behandelt werden. Das heißt, niemand verliert, was er als seinen rechtmäßigen Besitz deklarieren kann. Natürlich schreit und jammert die Opposition: Diese Reform ist der Anfang vom Ende des Privateigentums in Venezuela! Vergleiche zwischen Hugo Chávez und Simbabwes Robert Mugabe haben Konjunktur.
Mitte Januar hatte der Präsident per Dekret Nr. 3408 verkündet, eine Kommission bilden zu wollen, die darüber wacht, dass innerhalb von sechs Monaten mindestens 100.000 landlosen Bauern-Familien konfisziertes Agrarland zugeteilt wird. "Nur fünf Prozent der Venezolaner verfügen über 80 Prozent aller Ländereien, während 75 Prozent von uns nur sechs Prozent besitzen! Eine Revolution, die das hinnimmt, darf sich nicht länger Revolution nennen!", schrie Chávez am 11. Januar 10.000 versammelten Kleinbauern in Caracas entgegen.
Zu den nämlichen fünf Prozent darf sich auch der Brite Lord Vestey rechnen - mit Hato El Charcote gehört ihm, einem der reichsten Männer Lateinamerikas, eine der größten Latifundien Venezuelas, die auf stolze 13.000 Hektar Fläche kommt. "Die Vestey-Familie lebt nicht von ihrem Einkommen; sie lebt nicht von den Zinsen ihres Einkommens; sie lebt von den Zinsen ihrer Zinsen", schreibt Philip Knightley in seinem Buch über den Vestey-Clan, dessen Vermögen auf 750 Millionen britische Pfund geschätzt wird.
Du bist wirklich ein Geschenk Gottes", sagt Juan Carlos, mein Taxifahrer, schlägt ein Kreuz und ist dankbar, etwas tun zu können. Auf der Fahrt zum Hato El Charcote sehe ich im Wechsel Weiden mit weißem Rindvieh, Zuckerrohrfelder und brachliegendes Land. Zehn Kilometer vor der Ranch gibt es einen ersten Polizeiposten. Auf einem Feldweg stehen zwei Jeeps der Nationalgarde, etwa 30 Polizisten und Nationalgardisten sitzen unter Partyzelten und tun nichts. Ihre Anwesenheit ist offenbar als Machtdemonstration gedacht. "Links und rechts, das ist Land der Boultons", erzählt Carlos, "eine der reichsten Familien hier in der Gegend. Ihnen gehören sechs Schlachthäuser und bestimmt mehrere tausend Hektar Weideland."
An diesem Tag hat Johnny Rangel, der Gouverneur des Bundesstaat Cojedes, "Interventionen" auf acht Hatos und Fincas angeordnet. "Privateigentum ist ein Recht, aber kein absolutes", hat er zur allgemeinen Klarstellung mitteilen lassen. "Intervention" bedeutet, wie derzeit überall im Land werden die Eigentumsrechte einer Ranch durchleuchtet und brachliegende Ländereien inspiziert. Vor ein paar Tagen war davon auch der Hato El Charcote betroffen, über 200 schwer bewaffnete Nationalgardisten sicherten sämtliche Zufahrten ab, da es zuvor Spannungen zwischen einigen "Invasores" (Landbesetzern) und Lord Vestey gegeben hatte. Auf dem Gelände selbst hat eine Kommission des Bundesstaates Posten bezogen, um die Besitzurkunden zu kontrollieren und Zweifel an den Eigentumsrechten für etwa 3.500 der 13.000 Hektare des Hato El Charcote anzumelden. Lord Vestey fühlte sich brüskiert von dieser "Intervention" auf seinem Land.
"Meine Familie ist seit mehr als 100 Jahren in Venezuela, und sie hat vor, noch eine Weile zu bleiben. Diese Plantage wurde von meinem Urgroßvater 1903 rechtmäßig erworben." - Mehr will er nicht sagen. Auch die Posten an der Einfahrt des Riesengeländes haben wenig Lust, mir mit ein paar Auskünften behilflich zu sein. "Hast du etwas Trinkgeld?", fragt ein junger Polizist, den Blick hinter seiner Spiegelsonnenbrille versteckt. Nachdem er 2.000 Bolivares bekommen hat, sagt er noch immer nichts, aber wir dürfen weiterfahren. "Es ist viel zu heiß, um hier Wache zu schieben, das musst du verstehen", versucht Taxifahrer Carlos zu erklären.
Wir fahren im Schritttempo, links von der Sandpiste tauchen die ersten Behausungen der "Invasores" auf. Ärmliche Hütten aus Wellblech mit einem Dach aus Palmblättern und zwei Wänden lediglich. So schläft man zwar im Freien, aber wenigstens mit einem Dach über dem Kopf. Zum Mobiliar gehören Hängematten, ein paar Kochutensilien, der Herd mit Gasflasche, Kartons und Kisten. Ich frage Pablo Rodriguez der auf einem Kartonrest sitzend vor sich hindöst, wie eine solche Landnahme denn funktioniert. Er schaut mich ungläubig an. "Einfach so! Man sucht sich ein Stück Land aus, baut über Nacht eine Hütte und zieht nicht mehr ab."
Rodriguez sieht aus wie ein landloser Campesino aussehen soll: altes Basecape, zerrissenes T-Shirt, gelbe Gummistiefel. Auch die Machete fehlt nicht. Um das Kinn liegt dich und verwildert der ergrauende Bart. "Ich habe Angst vor der Zukunft", sagt er. "Ich komme von der Küste, aus Moron. Da hatte ich ab und zu einen Job für ein paar Monate, aber das brachte nichts. Dann hörte ich, in den Llanos würde es Land geben. Deswegen zog ich in diese Gegend. Aber jetzt sind plötzlich überall die Kommission unterwegs, und wir dürfen nichts mehr säen, bis geklärt ist, wem was gehört. Das sorgt für Unruhe, so dass sich keiner mehr hierher verirrt, um mein Gemüse zu kaufen. Wovon soll ich leben?"
Ein paar Parzellen weiter wohnt seit vier Jahren Antonio Rivas mit seiner Frau und vier Kindern. Noch eine Familie von der Küste. Um das Haus herum wachsen Tomaten, Bohnen, Mais, Yucca und Bananen. "Der Boden hier ist gut", meint Rivas, "und gehört nicht zum Hato El Charcote, das ist doch klar. Trotzdem weiß ich nicht, was die nächsten Wochen bringen. Vielleicht wird das Land jetzt doch wieder anders verteilt, nachdem die Kommission abgezogen ist. Man hört auch etwas über Bauernkooperativen. Aber wir sind schon seit vier Jahren hier, wir haben für dieses Land gekämpft. Keiner wird es uns nehmen. Wir bleiben, bis zum Ende."
Argentinien
Einwohnerzahl: 37,5 Millionen
Fläche: 2,7 Millionen Quadratkilometer
Hauptstadt: Buenos Aires
Staatspräsident:
Néstor Carlos Kirchner Ostoic (seit Mai 2003 / Partido Justicilista / PJ)
Gewählt am 27. April 2003 mit nur 21 Prozent der Stimmen, da der erforderliche zweite Wahlgang durch den Rückzug des Gegenkandidaten Carlos Menem entfiel.
Regierende Partei
Partido Justicilista (Peronisten)
Bruttosozialprodukt (2004) : 261 Mrd. Dollar (Wachstumsrate BSP: + 3,7 Prozent)
Bruttonationaleinkommen pro Kopf/Jahr (2003): 6.940 Dollar
Auslandsschulden (2003): 137 Mrd. Dollar
Brasilien
Bevölkerung: 172,6 Millionen
Fläche: 8,5 Millionen Quadratkilometer
Hauptstadt: Brasilia
Staatspräsident
Luis Inácio »Lula« da Silva (seit Januar 2003 / Partido Trabalhadores / PT)
Gewählt im zweiten Wahlgang am 27. Oktober 2002 mit 61,3 Prozent der Stimmen.
Regierende Parteien
Koalition aus Partido dos Trabalhadores (Arbeiterpartei), Partido Liberal (PL) sowie kleinere Parteien des linken Spektrums
Bruttosozialprodukt (2004): 528,5 Mrd. Dollar
(Wachstumsrate BSP: + 1,5 Prozent)
Bruttonationaleinkommen pro Kopf/Jahr (2003): 3.070 Dollar
Auslandsschulden (2003): 226 Mrd. Dollar
Ecuador
Bevölkerung: 1,6 Millionen
Fläche: 283.500 Quadratkilometer
Hauptstadt: Quito
Staatspräsident
Lucio Gutiérrez Borbúa (seit Januar 2003)
Gewählt im zweiten Wahlgang am 24. November 2002 mit 54,2 Prozent der Stimmen.
Regierende Parteien
Partido Sociedad Patriótica 21 de Enero (PSP), bis 2003 Koalition mit dem Movimento Unidad
Plurinacional Pachakutik Nuevo Pais (indian. Bewegung MUPP-NP)
Bruttosozialprodukt (2004): 12,5 Mrd. Dollar
(Wachstumsrate BSP: + 3,5 Prozent)
Bruttonationaleinkommen pro Kopf/Jahr (2003): 1.075 Dollar
Auslandsschulden (2003): 13,9 Mrd. Dollar
Uruguay
Bevölkerung: 3,4 Millionen
Fläche: 186.000 Quadratkilometer
Hauptstadt: Montevideo
Staatspräsident
Tabaré Vazquez (ab Februar 2005 / Frente Amplio / FA)
Gewählt am: 31.Oktober 2004 mit 52,1 Prozent
Regierende Partei
Encuentro Progresista-Frente Amplio (Linksbündnis)
Bruttosozialprodukt (2004): 19,0 Mrd. Dollar
(Wachstumsrate BSP: - 3,1 Prozent)
Bruttonationaleinkommen pro Kopf (2003): 5.710 Dollar
Auslandsschulden (2003) : 9,7 Mrd. Dollar
Venezuela
Bevölkerung: 24,6 Millionen
Fläche: 916.000 Quadratkilometer
Hauptstadt: Caracas
Staatspräsident
Hugo Chávez Frías (seit 2. Februar 1999/ Movimento Quinta República)
Wiedergewählt bei den Präsidentschaftswahlen am 30. Juli 2000 mit 59,5 Prozent der Stimmen, im
Amt bestätigt durch ein Referendum am 15. August 2004 mit 58,2 Prozent der Stimmen.
Regierende Partei
Movimento Quinta República
Bruttosozialprodukt (2004): 117,2 Mrd. Dollar
(Wachstumsrate BSP: + 2,7 Prozent)
Bruttonationaleinkommen pro Kopf/Jahr (2003): 4.760 Dollar
Auslandsschulden (2003): 34,6 Mrd. Dollar
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