Tankstelle für die Seele

Parallelgesellschaft Im mecklenburgischen Lärz führt die Landebahn der Utopien über die Lenin-Allee und den Ché-Guevara-Ring bis zum Roten Platz

Auf einem einstigen sowjetischen Militärflugplatz errichten jeden Spätsommer 40.000 Kulturkosmonauten eine Parallelgesellschaft. Unbekannte Bands, linke Politik und schräge Leute: Es lebe der Ferienkommunismus!

Weshalb muss es immer bei jedem Festival regnen?", fragt sich ein Kulturkosmonaut am Bahnhof in Neustrelitz. Hinter ihm durchsucht ein Arbeitsloser die Müllbehälter. Dankbar stellt er die leeren Bierflaschen der Fusions-Besucher in seinen Korb. Eine Gruppe Kulturkosmonauten wartet brav auf den Bus in Richtung Militärflugplatz Lärz, ein Kaff in Mecklenburg-Vorpommern. Studenten mit blonden Dreadlocks, aneinander herumfummelnde Pärchen mit geöffneten Weinflaschen, Berliner Partytiger mit Sonnenbrillen, Babys in Tragtüchern, rauchende Langhaarige und politische Aktivisten: Alle sind für ein paar Tage Ferienkommunismus bereit, wie der inoffizielle Slogan des Fusion- Festivals lautet.

Vincent van Go Go

"Hast du ein Feuerzeug?", fragt ein Kulturkosmaut - so nennen sich die Fusions-Besucher - an der Kreuzung Lenin-Allee-Ché-Guevara-Ring. Das ist wahrscheinlich die am häufigsten gestellte Frage auf der Fusion: ein Feuerzeug, um eine Bierflasche zu öffnen, ein Feuerzeug, um einen Joint anzuzünden - oder ganz kitschig: ein Feuerzeug, um es im Publikum bei den Bands zum Winken zu benutzen. Aber eigentlich tut man so etwas nicht, denn wer zur Fusion fährt, ist cool, und coole Leute winken nicht mit Feuerzeugen. Eigentlich ist auch das Wort cool schon wieder uncool. Über die Fusion redet man nicht, man ist einfach da. Oder nicht. Letzteres ist auch möglich, denn für die Fusion wird keine Werbung gemacht. Die Fusion, das ist Widerstand gegen die Konsumgesellschaft.

"Dies ist kein Durchschnittsfestival", erklärt Mathias, der seit den späten neunziger Jahren die Fusion besucht. "In den ersten Jahren war hier gar nichts. Es kamen nur DJs, die Trance unter freiem Himmel auflegten. Es gab kein Catering, keine Toiletten, gar nichts." Mathias hat seine Zweifel, ob er nächstes Jahr wieder kommt. "Es wird langsam zu teuer. " Die Fusion kostet 60 Euro für vier Tage Bands, Theater, Kino, Hörspiele, Performances und politische Aktivitäten. Die Bands tragen Namen wie Apparatschik, Vincent van Go Go und Testsieger, während das Theater von Hipermembrana und Burnt Out Punks versorgt wird. Große Namen findet man hier freilich nicht, aber das ist den etwa 40.000 Besuchern egal, die über den Spätsommer kommen und gehen. Das Fusions-Kino zeigt Filme von Protesten gegen den G-8-Gipfel in Heiligendamm vor einem reichlichen Jahr. Außerdem gibt es iranische Kinderfilme und einen Film von 1953 über Walter Ulbricht: Baumeister des Sozialismus.

"Sei herzlich willkommen auf der Landebahn der Utopien! Lass den Alltag draußen vor der Tür, richte deine Antennen aus auf Unerwartetes, auf Gleichgesinnte und auf deine Wünsche", meldet der Festival-Guide. "Die Fusion ist ein Marktplatz für Träume über eine Welt, die nicht von Desinteresse, Feindseligkeit, Intoleranz, Egoismus und Habgier überherrscht wird. Wir wollen eine Welt, in der es laut und chaotisch ist, wo Leute kollektiv ausflippen."

Das Wort Fusion ist in großen kyrillischen Buchstaben über die Hauptbühne des Camps gemalt worden. Die Konstruktion entstand in einem alten, mit Gras überwucherten Flugzeughangar, den am Rand eine Rakete überragt, das Symbol der Fusion. Daneben knattert eine rote Fahne kräftig im Wind, als ob die ehemaligen sowjetischen Kommandeure und Piloten des Flugplatzes dieses Gelände in der mecklenburgischen Tundra nie verlassen hätten.

Religion ist heilbar

Durchnässte Festivalbesucher warten auf nackten Füßen vor den Dixie-Toiletten, während etwas weiter entfernt im so genannten Datscha-Hangar eine merkwürdige Atmosphäre herrscht. Im Halbdunkeln liegen Hunderte in Schlafsäcken auf Sofas und hören sich das Hörspiel Hurengeschichten von einem gewissen K. Kalmbach an. Drinnen riecht es nach Marihuana und feuchten Dreadlocks. Wer wach ist, redet im Flüsterton. Wieder draußen, Richtung Fressmeile, diskutiert ein bärtiger Typ mit seinen Leuten. "Was, ich ein Hippie? Was denn? Ich bin Kommunist!" - Der Rest des Gesprächs wird von Trancemusik übertönt. Auf der Fressmeile kann man bei Pastafari aus vegetarischen oder veganen Pizzas wählen. Gegenüber verkauft Bio-Imbiss Muh Mäh-Mäh-Fladen. Fleisch gibt es nirgendwo auf der Fusion, es sei denn, man hat es selbst mitgebracht, denn kontrolliert wird bei den Eingängen nichts: Alkohol, Drogen, Essen, man kann so viel mitbringen, wie man will. Und wer etwas vergessen hat, der geht zum Intershop der Fusion, wo es Matratzen, Seife, Zahnpasta und Kondome gibt. Unweit vom Intershop kann man sich beim Arbeitsamt melden, falls man Geld braucht: Wer in nüchternem Zustand kommt, kriegt für sechs Stunden Arbeit 30 Euro - immerhin das halbe Eintrittsgeld.

"No to racism!" - "Abschaltung aller Atomanlagen weltweit!" - "Religion ist heilbar!"

Politische Slogans gibt es in der Tat überall: Auch die anwesenden Bands beteiligen sich an politischer Bildung und Erziehung. "What we need is resistance now!" - brüllt der Sänger der Londoner Band Senser ins Mikrofon. Senser ist eine Art britische Ausgabe der US-Band Rage Against the Machine. "I see the system crumble in front of me, I see the system falling apart!", brüllt der Frontmann, während sich die Sängerin andauernd nervig durch seinen Gesang kreischt. Das ist es, was die Kulturkosmonauten hören wollen. Weg mit dieser Gesellschaft!

Die Fusion, das sind auch die ausländischen Besucher. Viele Italiener, weil es solche Festivals in Italien nicht gibt. Viele Niederländer, weil es immer überall Niederländer gibt. Ansonsten Dänen, Schweden, Österreicher, Briten, Franzosen, Spanier, Polen und Luis, ein junger Portugiese mit schlechten Zähnen, aus Lissabon. Luis kam vor einigen Jahren wegen eines Mädchens nach Leipzig. Natürlich ist es mit dem Mädchen schon längst aus, aber Luis blieb und arbeitet jetzt in der Kinderecke und übt mit Kindern, wie man Siebdrucke auf ein T-Shirt bringt. "Ich finde die Fusion gut", meint Luis. "Ich verdiene hier absolut nichts, wir leben einfach von dem, was andere uns schenken. Das gefällt mir. Menschen, die nicht nur an Geld denken, die findet man heutzutage kaum noch."

Schwitzhütten und Speakers Corner

Das Besondere an der Fusion ist, dass jeder jeden annimmt, so wie er ist. Alles geht, so lange es nicht rassistisch, sexistisch oder homophob ist. Zwischen den Bäumen hinten auf dem Festivalgelände gibt es indianische Schwitzhütten und ein Speakers Corner. "Und deswegen sage ich euch: Deutschland sollte abgeschafft werden!", ruft ein auffällig durchschnittlich aussehender junger Mann seinen drei Zuhörern ins Gewissen. Etwas weiter schirmt ein etwa 40-Jähriger mit nacktem Oberkörper ein Baby ab, das vor ihm im Schlamm liegt, quietscht und spielt, während um ihn herum die Masse tanzt. Plötzlich steigt ein ohrenbetäubendes Gejohle auf: die Sonne bricht durch. Sofort fängt eine Berliner Band einen politisch korrekten Song über den Streit gegen Neonazis an. Am Horizont erscheint ein perfekter Regenbogen.

Als es Nacht wird, tritt La Phaze auf, eine französische Gruppe, die Pungle macht, eine Mischung aus Punk und Jungle. Männer mit Brillen und Gitarren springen wie verrückt auf der Bühne herum. Aus allen Windrichtungen streichen Bässe und alle Arten von Musikfetzen über das Gelände. Scharen von Kulturkosmonauten flattern wie angeschossene Vögel umher. Hier und da erhellt ein Böller den Himmel. Noch ein paar Tage, dann geht es für die Kulturkosmonauten wieder unerbittlich zurück, heraus aus der Parallelgesellschaft und hinein in die harte Realität. Dieser Weg wird für sie über den Mahatma-Gandhi-Pfad, über die Lenin-Allee, den angrenzenden Roten Platz in Richtung Ausgang führen. Zurück in den täglichen Wahnsinn.

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