Vergiss Bogotá, Rio und Johannesburg!

Venezuela Caracas gilt als gewalttätigste Stadt der Welt - an manchen Wochenenden sterben Dutzende von Jugendlichen

"Erstaunlich groß", ist spontan mein erster Gedanke, als der Halbwüchsige, der mich in der Kurve überholt hat, plötzlich eine Pistole unter seinem T-Shirt hervorholt und auf mich zielt. Eine große, schwarze, glänzende Kanone - eine Waffe, mit der man jemanden töten kann, schießt es mir durch den Kopf. Trotzdem weiß ich einen Moment lang nicht genau, was passiert. Das reicht für den Halbwüchsigen. Blitzschnell steht er hinter mir und schlägt mit dem Kolben auf meinen Kopf. Der Schlag ist so forsch, dass ich sofort in die Knie gehe, aber nicht so hart, dass ich bewusstlos werde.

Seit ich in Venezuela lebe, habe ich unendlich viele Geschichten über Überfälle auf Straßen und Plätzen, in Bussen und Zügen, in bestimmten Quartieren, nachts und am Tage gehört. Und jetzt passiert es mir ausgerechnet hier - an einem ruhigen Sonntagmittag mitten im Nationalpark an der Peripherie von Caracas, auf einem Wanderweg, auf dem jeden Moment andere Ausflügler auftauchen können.

Flashartig explodieren die Bilder in meinem Kopf, der Film lässt sich nicht mehr anhalten: Das ist ein Überfall, und die Regeln lauten: ruhig bleiben, kooperieren, alles abgeben, keinen Widerstand leisten. Ich sitze auf der Erde, meinen zweijährigen Sohn noch immer auf dem Arm, während der andere, der sechsjährige Sohn neben mir steht. Der Typ mit der eindrucksvoll großkalibrigen Pistole kann höchstens 15 sein, sein Komplize nicht viel älter als zwölf. Vielleicht bin ich deswegen so überrascht, weil ich nicht erwartet habe, in einem öffentlichen Park am helllichten Tag von zwei Schülern im Sportdress überfallen zu werden. Nur eine Kleinigkeit muss schief gehen, und alles läuft aus dem Ruder, denke ich, und versuche, so ruhig wie möglich zu bleiben. In Venezuela wird man ohne Probleme für 30 Dollar erschossen. Ich traue mich kaum, die Jungs anzuschauen - ich will sie nicht provozieren -, nehme den Rucksack ab und leere fast mechanisch meine Hosentaschen, das Kleingeld, die Schlüssel und alles, was ich bei mir habe. Erstaunlicherweise legt der Jüngere, der die Sachen einkassiert, ganz präzise meine Schlüssel auf einem Stein zur Seite, die braucht er nicht. Gott sei Dank wollen die nicht auch noch wissen, wo ich wohne, geht es mir durch den Kopf. Ich fühle mich trotzdem erniedrigt, hier so zu Boden gezwungen mit meinen Kindern, die das alles miterleben müssen.

"Tu anillo!", ruft der Ältere plötzlich. "Rápido!", und er wedelt mit seiner Waffe herum. Jetzt gerate ich doch in Panik. Will er wirklich mein Kind? Schließlich nimmt die Zahl der Entführungen immer mehr zu in Venezuela. Doch dann zeigt er mit dem Lauf seiner Pistole auf meinen Ehering: in der Aufregung habe ich Ring ("Anillo") mit Kind ("Niño") verwechselt. Ich bin bereit, alle Sachen abzugeben, aber ob ich so einfach meinen kleinen Sohn hergeben würde? So geht also auch mein Ehering verloren, den ich schnell vom Finger ziehe, irgendwann während eines verregneten, aber glücklichen Wochenendes in Rom hatte ich ihn gekauft.

Die beiden haben nun, was sie wollen, und ziehen sich - ohne etwas zu sagen - zurück. Ich wage es kaum, nach oben zu schauen, geschweige denn in die Richtung, in der beide davon laufen, weil ich jeden Augenblick mit einem Schuss rechne. Dann jedoch sind sie verschwunden.

So ruhig, aber auch so schnell wie möglich laufen wir zum Parkplatz zurück, nur einige Minuten vom Schauplatz des Überfalls entfernt. Ein Parkwächter wird aufmerksam. "Was ist passiert?", fragt er, als er sieht, dass mein ältester Sohn weint. Als ich ihm erzähle, wir seien überfallen worden, kommt es wie aus der Pistole geschossen: "Das wundert mich nicht, eine gefährliche Gegend hier. Es ist noch gar nicht lange her, da sind in diesem Park an einem einzigen Wochenende über 50 Leute ausgeraubt worden". - Typisch Venezuela, denke ich. Alle wissen, was los ist, alle wissen, das etwas geschehen muss, und keiner tut etwas. In solchen Momenten hasse ich dieses Land, das ich sonst so liebe.

Große Blutlache

Nicht alles, was derzeit in Venezuela stattfindet, ist voller Rosenduft im Mondenschein. Die Bolivarische Republik verfügt weltweit über eine der höchsten Kriminalitätsraten - nirgendwo sterben pro Jahr so viele Menschen bei Schießereien wie in der Hauptstadt. Vergiss Bogotá, Rio de Janeiro oder Johannesburg! Es ist Caracas, wo in mancher Nacht vom Samstag zum Sonntag 30, 40, manchmal sogar 70 Personen sterben, weil Drogengangs alte Rechnungen begleichen, Claims abstecken oder gerade mit internen Rivalitäten beschäftigt sind. Die Barrios, die Armendistrikte im Westen und Osten, sind absolute No-Go-Areas - nur wer sich einigermaßen auskennt, sollte eine zügige Durchfahrt im Auto riskieren.

Sonia, eine befreundete Kolumbianerin, die schon über 30 Jahre in Caracas zu Hause ist, fährt jeden Tag von Petare, einem der größten Armenviertel Lateinamerikas überhaupt, zur Arbeit im reichen Quartier Altamira. Am Wochenende verbringt sie ihre Nächte in Petare regelmäßig auf den Fußboden. "Mein Rücken schmerzt, weil ich letzten Samstag wieder abtauchen musste", erzählt sie manchmal. "Draußen wurde mit Maschinenpistolen geschossen - im Bett wäre ich meines Lebens nicht mehr sicher gewesen. Am Morgen sah ich eine große Blutlache auf der Straße, doch die Polizei tat wie immer nichts, die traut sich schon lange nicht mehr in unsere Gegend."

Sonia braucht man nichts über Kriminalität zu erzählen. Die 60-Jährige verlor im Vorjahr ihre Enkeltochter, die während eines Schusswechsels bei einer Taufe zufällig in der Nähe war. Als Sonia einmal mit dem Bus nach Altamira fuhr, stiegen plötzlich zwei junge Männer ein, zogen ihre Pistolen und wollten alle Passagiere ausrauben. "Jeder gab sein Zeug ab. Bis der Mann, der neben mir saß, an die Reihe kam. Statt sein Geld heraus zu holen, zog er blitzschnell eine Pistole und erschoss in einem Zug beide Gangster. Vermutlich ein Polizist in Zivil - aber weiß man es?"

Polizist oder nicht, jeder der will, kann sich in Caracas ohne Mühe eine Waffe beschaffen - sie ständig bei sich zu tragen, gilt als normal. Vielleicht sind die Mordraten deswegen so hoch. In den zurückliegenden Jahren lag in Venezuela die Zahl der Todesopfer von Gewalttaten bei durchschnittlich 10.000 pro Jahr - in Caracas selbst kamen 2005 154 von 100.000 Einwohnern bei Verbrechen ums Leben. Damit hat sich die Quote seit 1998 mehr als verdreifacht.

Woher dieser Hang zur Gewalt? Manche Oppositionspolitiker geben sich überzeugt, Präsident Hugo Chávez trage dafür eine Mitschuld. Seine schroffe, polarisierende und aggressive Rhetorik führe dazu, dass viele Venezolaner heute mit Hass und Verachtung aufgeladen seien und sich durch Brutalität abreagieren müssten. Tatsächlich liegen die Ursachen wohl mehr im expandierenden Drogenhandel, im Elend und in der sozialen Depression, die auf den Armenvierteln lastet.

Tatsache ist, dass die Regierung dem Thema Gewalt und Kriminalität bis vor kurzem nur wenig Aufmerksamkeit schenkte. Das änderte sich im April schlagartig, als das ganze Land nach dem Tod der entführten Faddoul-Brüder, die 12, 13 und 17 Jahre alt waren, in Aufruhr geriet. Die drei Söhne eines kanadisch-venezolanischen Unternehmers wurden zusammen mit dessen Chauffeur kaltblutig hingerichtet, als die Entführung zu scheitern drohte. Es gab danach tagelang Ausschreitungen und Demonstrationen, viele Venezolaner fuhren mit dem Wort "Luto" (Trauer) in Großbuchstaben auf ihrem Autoverdeck durch die Straßen. Die Regierung verhielt sich nicht sonderlich glücklich, als sie zwar versprach, es werde Gerechtigkeit geben, gleichzeitig aber der Opposition vorwarf, sie missbrauche die Morde, um Unruhe zu schüren.

Secuestro express

Mittlerweile sind im "Fall Faddoul" 21 Verdächtige verhaftet worden, darunter etliche Polizisten. Einige Tage nach dem Mord wurde ein Pressefotograf, der Bilder von einer Demonstration gegen die Gewalt machen wollte, von einem Unbekannten auf einem Motorrad erschossen. Der tödlich Verwundete schoss sein letztes Bild von dem davon rasenden Krad, was schließlich bei der Identifizierung des Täters half: ein Ex-Polizist, der sich mittlerweile als Killer verdingte. Dies alles bestätigt, was nicht wenige Venezolaner schon länger zu wissen glauben: vielen Polizisten kann man nicht vertrauen, sie beteiligen sich an kriminellen Aktivitäten und sind korrupt. Man tut gut daran, sich immer so weit wie möglich von der Polizei entfernt zu halten. Das hat mittlerweile auch Juan Barreto, der Bürgermeister von Caracas, erkannt und entließ mehrere tausend Polizisten, die in die organisierte Kriminalität verstrickt waren.

Ein Informationsblatt der deutschen Botschaft in Caracas stimmt auch nicht gerade fröhlich: man solle sich nie in irgendwelche Gespräche mit Fremden einlassen, heißt es da, unterwegs immer die Autoscheiben geschlossen halten, in der Mitte der Straße fahren, damit man stets ausweichen könne und so weiter. Dass man am Besten so schnell wie möglich Venezuela verlassen soll, fehlt noch in diesem Verhaltenskatalog. Im Übrigen sind selbst diplomatische Missionen kein sicheres Terrain - Ende Mai wurde der österreichische Konsul angeschossen, als drei Kriminelle sein Konsulat ausräumten.

Dass die Venezolaner Angst haben, bleibt der Opposition nicht verborgen. Seit längerem gibt es an öffentlichen Plätzen in Caracas den Grafitti-Spruch Teodoro - Venezuela sin miedo! ("Teodoro - Venezuela ohne Angst") zu besichtigen. Teodoro Petkoff ist gerade dabei, zum wichtigsten Gegenspieler für Hugo Chávez bei den Präsidentenwahlen im Dezember aufzusteigen. Mit dem Slogan wird nicht nur auf die Kriminalität angespielt, es geht prinzipiell um die grassierende Angst vieler "Mittelstandsvenezolaner" vor dem künftigen Kurs. Die Frage - wie weit wird Chávez mit seiner sozialistischen Politik noch gehen? - versetzt sie in Unruhe.

Wenn die Kriminalität derzeit zum alles beherrschenden Thema avanciert, hat das freilich weniger mit den Sprüchen der Opposition zu tun, sondern eindeutig mit der Erschütterung über den Mord an den Faddoul-Brüdern. Zwar sind in Venezuela noch keine Dimensionen wie in Kolumbien erreicht, wo im Jahr Tausende entführt werden, aber es geht mittlerweile immerhin um einige hundert Menschen, die einen so genannten Secuestro Express - eine "Express-Entführung" - durchzustehen haben. Das heißt, die Opfer werden, zumeist mit ihrem Auto, für ein paar Stunden gekidnappt, Angehörige aufgefordert, eine bestimmte Summe zu überweisen oder Geld bereit zu halten. Wenn es keine "Komplikationen" gibt, werden die Entführten irgendwo weit außerhalb von Caracas abgesetzt, natürlich ohne Fahrzeug. Manche Venezolaner bevorzugen deshalb mittlerweile ältere, verschlissene Modelle, um keine Begehrlichkeiten zu wecken.

Die Express-Entführung ist gar zum unerwarteten Exportschlager avanciert, denn der venezolanische Spielfilm, der gerade in großem Stil an Verleiher in den USA verkauft wird, sorgte vor einem Jahr zunächst in Caracas für Furore - er heißt Secuestro Express. Gezeigt wird die Geschichte eines Oberschichtpärchens, das von drei Kriminellen entführt wird. Sie überlebt, er stirbt. Mancher Venezolaner, der den Streifen sah, hatte danach das Gefühl, irgendwann schon einmal in diesem Kino gewesen zu sein. Déjà vu.


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