Je dois partir

Suizid Einen Menschen gehen zu lassen ist schwer. Dennoch sollten wir so manchen Suizidwunsch als rationale Entscheidung bewerten und uns dementsprechend verhalten.

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In seiner Biographie bestreitet Dave Mustaine, dass es sich bei A tout le monde um ein Lied handele, welches sich positiv mit dem Suizid befasse. Betrachtet man den Text, so finden sich jedoch durchaus relevante Gründe, um anzunehmen, ein Suizidär erkläre hier seine Absicht. Die Wahrscheinlichkeit, dass Mustaine auf Grund des öffentlichen Drucks - MTV weigerte kurzzeitig die Ausstrahlung des Videos - eine Neuinterpretation der Metalballade vornahm, ist also nicht gering. Seit 1994 hat sich an der gesellschaftlichen Haltung zum Suizid wenig geändert.

Der paternalistische Staat

So ist es auch kaum verwunderlich, dass die Grenzen der Selbstbestimmung an der Entscheidung über das eigene Ableben enden. Deutschland hat eines der rigidesten Systeme im Bezug auf den attestierten Suizid, was für terminal Kranke in gleicher Weise gilt, wie für solche, deren Todeswunsch der Mehrheit voraussichtlich nicht einsichtig ist. Geprägt ist diese Staatsräson von starken Kräften der christlichen Kirchen, die das Leben als Geschenk Gottes und somit als Wert a sich ansehen, den es unbedingt zu erhalten gelte. Wie das Leben an sich aussieht, ob die betreffenden Personen überhaupt ein Interesse an ihrem Fortleben haben, ist dabei irrelevant. Es besteht eine Situation der Entmündigung, in welcher Gerichte auf Ratschlag von Psychologen darüber entscheiden, ob einem Menschen das Recht auf Selbstbestimmung genommen werden darf. Das Psychatrierecht unterliegt damit Durchgriffsrechten, die im Strafrecht undenkbar wären. Eine merkwürdige Asymmetrie.

Denn es ist der klinischen Psychologie historisch mit Sicherheit einiges vorzuwerfen. Unter den medizinischen Wissenschaften ist sie voraussichtlich diejenige, die reaktionären Ideologien am meisten gedient hat. Fängt das Strafrecht die Gedanken nicht ein, so schafft es die Psychatrie. Ein normativ aufgeladener Begriff von Normalität dient als Vehikel dafür, Menschen ihre Rationalität abzusprechen. Wer sich nicht so verhält, wie es die breite Masse für angebracht hält, der sei eben abnormal, wahrscheinlich gefährlich, zumindest für sich selbst. Und so bleibt die Entscheidung über die eigene Unversehrtheit in den Händen Anderer. Während wir also in Fragen der Sexualität und Lebensführung konsequente Schritte hin zu einer Liberalisierung machen, dies auch, wenn auch unter starkem konservativen Widerstand, auch in der Frage der Fortpflanzug tun, so bleibt uns das Recht am eigenen Leben genommen. Außer wir schweigen.

Straffreiheit und Ächtung

Man mag einwenden, dass sich auch die Betrachtung des Suizids in der Geschichte gewandelt hat. Richtig ist, dass wir die Leichen von Suizidenten nicht mehr durch die Straßen schleifen oder das Erbrecht in solchen Todesfällen aussetzen. Richtig ist aber auch, dass die klinische Psychologie nicht nur eine Hilfestellung für Diejenigen bietet, die sich aus einer suizidalen Krise befreien wollen, sondern auch Jenen eine Behandlung bzw. Verwahrung oktroyiert, die ihrem Wunsch mit einer reflektierten Affirmation gegenüberstehen . So mag man anfügen, dass die Bedingungen der Psychatrie sich im Laufe des vergangenen Jahrhunderts verbessert haben, dass es wenig physische Beeinträchtigungen gebe. Dies würde die psychatrische Behandlungspraxis jedoch verharmlosen. Nur weil keine Schreie mehr durch die Gänge klingen bedeutet das nicht, dass die Insassen psychatrischer Kliniken nicht weiterhin ihrer Freiheit beraubt werden. Die Praxis der Medikamentierung hat die Schreie verstummen lassen, nicht jedoch das Leid.

In gleicher Weise muss auch die soziale Praxis im Umgang mit Personen mit suizidaler Neigung verstanden werden. Wir loben uns selbst als liberale Gesellschaft, weil wir Verrückte nicht mehr auf der Straße einfangen. Gleichzeitig setzen wir uns jedoch in einer Praxis des bedauernden Mitleidens wieder über unsere Mitmenschen hinweg, wenn wir sie nicht ernst nehmen, sondern zu medizinischen Problem degradieren. Diese vermeintliche Toleranz und Fürsorge ist nichts anderes als eine Fortsetzung einer alten Praxis: Dem Ausschluss des vermeintlich Abnormalen aus der Gesellschaft. Die pharmazeutrische Entwicklung, die es ermöglicht auch schwer depressiven Menschen wieder Lebensperspektiven zu geben, hat auch eine Appellfunktion: Wie kannst du dich dem entziehen, wenn es doch so leicht ist? Hier wird aus einer Möglichkeit eine Pflicht, welche dem Menschen in seinen individuellen Handlungsräumen bis auf deren Grundlagen einschränkt, obwohl die Freiheiten Anderer kaum bis nicht tangiert werden.

Sozialethische Konfliktlinien

Keineswegs sei damit aber gesagt, dass das Individuum mit seinem Suizidwunsch von der ihn umgebenden Gesellschaft abgetrennt sei. Natürlich sind auch hier Andere betroffen: Freunde, Angehörige, etwaige Lebenspartner und Kinder, behandelnde Ärzte. All diese werden, spätestens mit dem Vollzug des Suizides, Teil der Entscheidung. "You know the sleeping feel no more pain | And the living all are scarred", heißt es in A tout le monde. Entsprechend unterliegen auch Suizidäre moralischen und gesellschaftlichen Pflichten, die sie einhalten müssen. Solange der Suizidär jedoch in der Ecke des moralisch anrüchigen bleibt sind ihm die Möglichkeiten der Auseinandersetzung und der Vorbereitung von Angehörigen verwehrt. Er kann nur ex post erklären, mit dem was er hinterlässt. Die Möglichkeit der Rückfrage bleibt aus. Ein Problem, dass sich primär den Zurückbleibenden stellt und was es auch für Angehörige leichter machte, sprächen wir offener und vor allem mit offenerem Ausgang über Suizide.

Ein weiteres Problem ist die Einbindung Dritter in Suizidakte. Klassische Weisen der Selbsttötung, wie der Sprung vor den Zug, tangieren Dritte in unentschuldbarer Weise. Der Sprung vor den Zug ist daher nicht wegen der suizidalen Handlung moralisch zu tadeln, sondern weil er Unbeteiligte belastet. Eine institutionalisierte Praxis der Suizidassistenz hülfe jedoch auch hier. Auch viele Probleme von Suizidären betreffs negativer Folgen eines missglücktes Suizidversuches blieben damit ausgeschlossen. Solange das Prizip der (relativen) Freiwilligkeit dabei gewahrt bleibt, bleiben auch die Vergleiche mit der staatlichen Euthanasie ohne Belang. Im Gegenteil würde die bisherige Praxis, die nur als starker Paternalismus zu bezeichnen ist, durch eine liberale Praxis ersetzt, die es erlauben würde nicht nur selbstbestimmt zu leben, sondern auch, selbstbestimmt zu sterben.

Liberalismus, kein Heroismus

Um den Suizid als Teil menschlicher Lebenspraxis ernst zu nehmen muss man ihn nicht heroisieren. Der Mensch, der weiterlebt, ist weder besser noch schlechter, als der, der dem Leben ein Ende setzt. Lediglich der Bereich der Selbstbestimmung wird ausgedehnt und der absurde Zustand, dass über die Grundlage aller Freiheiten, nämlich das Leben, nicht das Individuum selbst bestimmt, sondern das institutionelle Gefüge, in welches es geboren wird, abgeschafft. Ein Appell für einen entspannteren und liberaleren Umgang mit dem Suizid bedeutet also nicht den Suizid als den Weg des Todes zu beschreiben. Es bedeutet auch nicht, Suizidprävention und Therapie von psychischen Krankheiten abzulehnen. Es bedeutet lediglich, Menschen als Menschen und nicht als Fälle eines medizinischen Problems zu begreifen. Und das dürfte keinesfalls eine radikale Forderung sein.

Diesem Text liegt ein Essay mit dem Titel "Der begründete Suizid - Versuch einer Affirmation der rationalen Selbsttötung" zu Grunde.

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