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Sicherheit Die meisten Tötungsdelikte in Deutschland bleiben regionale Meldungen. Außer sie eignen sich zur rassistischen Propaganda. Wie kann damit umgegangen werden?

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Der Fall liest sich wie ein Beispiel aus einem Strafrechtslehrbuch: "Am Dienstag soll der 31-Jährige den Bruder seiner Frau, der zum Schutz der Familie in deren Wohnung gezogen sei, am frühen Morgen unter einem Vorwand aus dem Wohnhaus gelockt haben. Nachdem der Bruder das mehrstöckige Mehrfamilienhaus verlassen hatte, habe sich der Familienvater auf Socken aus einem Versteck im Treppenhaus in die Räume der Wohnung geschlichen. Innerhalb weniger Minuten habe er dann die schlafenden Kinder im Alter von drei, sieben und neun Jahren sowie seine Frau durch Messerstiche getötet, heißt es." Ereignet hat er sich vergangenes Jahr mitten in Deutschland. Überregional bekannt wurde er nicht. Warum? Der Täter war Deutscher, somit bleiben selbst diese Morde eine regionale Meldung.

Gewalt als kulturfremde Praxis

Im oben geschilderten Falle handelte es sich um einen Rachemord. Ein gewalttätiger Mann, der von seiner Frau verlassen wird. In einem vermeintlichen oder tatsächlichen islamischen Kontext sprächen wir von Ehrenmorden. So ist es ein Familiendrama. Ähnlich auch ein Fall in Kempten. Ein Vater tötet sein acht Monate altes Kind, um sich an seiner Freundin zu rächen, die ihn zuvor verlassen hatte. Kurz zuvor verdurstete ein zweijähriges Kind in Essen. Die Eltern hatten es unbeaufsichtigt und ohne Zugang zu Wasser in einem überhitzten Zimmer eingesperrt. Auch diese Meldungen erreichten keine überregionale Aufmerksamkeit, handelt es sich doch um deutsche Täter.

Morde, die von Migranten, von vermeintlichen oder tatsächlichen Geflüchteten oder generell Menschen, die nicht als deutsch gelesen werden, begangen werden, dienen der Rechten dazu, einen Kulturkontrast zu konstruieren: Auf der einen Seite wir, die Zivilisierten, die Europäer. Auf der anderen Seite die Wilden, die Afrikaner, Araber und Muslime, deren Kultur und Sozialisation der unseren so fremd ist, dass sie nicht integrierbar sind. Dass wir sie nicht einfangen können, nicht zähmen können. Die etwas mitbringen, dass uns fremd ist: Die Gewalt. Gewalt, die unserer Kultur fremd ist.

Zahlen und Patterns

Nun ist es schon eine erstaunliche Leistung, wenn gerade Deutsche behaupten, Gewalt sei ihrer Kultur fremd. Und vor allem, wenn sie dies tun, wenn noch Zeitzeugen darüber berichten können, welche Gewalt die deutsche Kultur bereit hält. Und ja, natürlich ist hier vom Holocaust die Rede und nein, das ist keine Keule. Die gesamte europäische Kulturgeschichte ist blutüberströmt, zuerst aus religiösen, dann aus nationalen Gründen. Die Gewalt ist der europäischen Kultur inhärent, weil sie dem Menschen inhärent ist. Recht, Moral, gesellschaftliche Pflichten – wir denken auch deswegen darüber nach, weil ein friedliches Zusammenleben nicht von alleine funktioniert. Und nein, nicht, weil wir aus fremden Kulturen kommen, sondern weil wir Impulsen und Affekten unterliegen. Gesellschaft ist am Ende des Tages auch nichts anderes, als der Versuch einer organisierten Sublimation und Kontrolle dieser Impulse.

Die Frage wäre also: Ist die europäische Kontrollpraxis besser? Und ist sie nur durch Frühsozialisierung möglich? Ein Argument der Rechten ist, dass die Rate von Gewaltverbrechen nach 2015 gestiegen ist. Das trifft zu, gerade in Bezug auf Tötungsdelikte. Sie ist jetzt etwa wieder auf dem Stand von vor zehn Jahren und sichtbar unter dem Niveau von vor 20 Jahren. Und sind gerade Flüchtlinge häufig krimineller? Ja, zumindest, solange ihr Aufenthaltsstatus ungeklärt ist oder sie nur geduldet sind. Sind Flüchtlinge in ihrer jeweiligen Vergleichsgruppe krimineller? Nein, eigentlich nicht. Mit Zahlen lässt sich spielen, es hängt an der Einordnung. So lässt sich auch festellen: Stuttgart, Kempten, Essen und Gunzenhausen: Die Täter waren alle junge Männer. Wäre die konsequente Frage nicht, ob unsere Gesellschaft junge Männer erträgt? Sollten wir die Zwangsabtreibung männlicher Föten in Erwägung ziehen? Wer das für absurd hält, muss auch die Debatte um Ausländerkriminalität für absurd halten.

Strategien gegen die Desinformation

Bleibt die Frage: Was tun? Wenn in Deutschland statistisch jeden Tag zwei Gewaltverbrechen mit tödlichem Ausgang stattfinden, dann bleibt vielleicht nur der mediale Gegenschlag. Alle diese Themen werden überregional verarbeitet. Denkbar wäre auch eine Umkehr des Framings: Hans-Peter wird arbeitslos, beginnt zu trinken. Seine Frau droht die Kinder zu nehmen und ihn zu verlassen. Der Mord? Ein Ehrenmord, natürlich. Bringt Mohammed seine Schwester um, weil sie vorehelichen Sex hat, so ist es eine Tragödie, eine Familiendrama. Niemand kann etwas dafür, solche Dinge passieren. Natürlich beinhaltet diese Forderung ein gewisses Maß an Polemik. Mir zumindest fiele aber im Moment nichts Sinnvolleres ein, um der Verzerrung der Wirklichkeit, welche von den Rechten über die Union bis in Zirkel der militanten Neonaziszene betrieben wird, ein authentischeres Gegenbild entgegenzustellen.

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