Was von Silvester übrig blieb

Connewitz Vom linken Mordversuch zum Polizeiexzess. Die Silvesternacht in Connewitz wirft immer mehr Fragen auf.

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Eine bemerkenswerte Neuinterpretation erlangte Ockhams Razor Mitte des 20. Jahrhunderts. Popularisiert als Zuschreibung an Robert J. Hanlon heißt es dort: Never attribute to malice that which can be adequately explained by stupidity - Nimm niemals Bösartigkeit an, wenn etwas durch Dummheit hinreichend erklärt werden kann. Im Nachgang zur Silvesternacht im Leipziger Stadtteil Connewitz bleibt daher die Frage: Wieviel Dummheit ist man bereit, den Akteuren aus Polizei und Politik zuzugestehen? Welches Maß an Inkompetenz darf angenommen werden und ist es hinreichend, um die Menge der Fehlinformationen, die auch Tage später noch weiter verbreitet wurden, zu erklären? Spätestens nach den letzten Recherchen zu den Ereignissen im Laufe der Nacht gilt: Egal wie skeptisch man gegenüber den intellektuellen Kapazitäten von Polizeivertretern und Unionspolitikern ist - alles lässt sich damit nicht erklären.

Die Sache mit dem Mordversuch

Am Anfang stand ein vermeintlicher Mordversuch. Ein organisierter Angriff mehrerer Personen, etwa 20-30, habe einen Polizisten so schwer verletzt, dass er notoperiert werden musste. Bei RTL äußerte ein Polizeisprecher am 02. Januar der Polizist sei weiterhin im Krankenhaus, aber er schwebe "nicht in Lebensgefahr". Diese Aussage ist so erst einmal richtig. Er litt auch nicht an der Pest und hatte nicht den Nobelpreis für Physik erhalten. All dies stand aber auch nie im Raum. Warum also der Zusatz? Vielleicht, weil es eigentlich gar nicht um die Sache ging. Einen Tag später erschien bei ZEIT Online ein bemerkenswertes Interview mit dem Leipziger Polizeipräsidenten. In dem Interview wiederholt der Polizeipräsident die Geschichte mit dem brennenden Einkaufswagen. Zu diesem Zeitpunkt war allerdings klar, dass es sich hier um eine Fehlinformation handelte. Die Frage ist also: War Schultze zum Zeitpunkt des Interviews nicht darüber informiert, dass seine Behörde falsche Informationen kommuniziert hatte? Oder tätigte er bewusst eine falsche Tatsachenbehauptung?

Für Ersteres spricht, dass Schultze auch sonst in diesem Interview häufig darauf verweist, er sei nicht dabei gewesen. Überhaupt wisse er eigentlich fast nichts. Für Letzteres spricht, dass er trotz seiner Unwissenheit nicht mit wortstarken Einschätzungen spart, spricht von "Linksextremisten, von Verbrechern, von Unmenschen." Einerseits weiß Schultze also nicht was passiert ist, andererseits ist schon klar wo der Feind steht: Es sind die Linken. Damit passte er sich auch gut in eine rechte Phalanx ein, die sich von notorischen rechten Trolls, ihren entsprechenden Publikationsorgangen, mehr oder weniger seriösen rechten Zeitungen bis hin zu den sogenannten bürgerlichen Parteien erstreckt. Von PI-News bis zur FAZ, von Meuthen bis Lindner war man sich einig: Hier die gute Polizei, da die bösen Linken. Beinahe-Staatssekretär Wendt fabulierte gegenüber der BILD sogar etwas von einer neuen RAF. Das einzige Problem: So war es nicht.

Rekonstruktion eines Zusammenstoßes

Was genau am Connerwitzer-Kreuz passierte, werden wir wohl nie klären. Wer sich im Recht fühlt behauptet, die Anderen hätten angefangen. Fest steht nur: Die Nacht verlief deutlich anders, als die Polizei behauptete. Nicht nur vergaß die Polizei in ihrer Mitteilung die "zivilen Opfer", auch der Tathergang ist offensichtlich falsch dargestellt. Im Vorfeld der Attacke schleifen zwei Polizisten einen anscheinend bewusstlosen Mann über das Connewitzer Kreuz. Der Hintergrund der polizeilichen Maßnahme ist ebenso unbekannt, wie der Grund für dessen Bewusstlosigkeit. Dann erfolgt die Attacke, ein Kung-Fu-Tritt nennen es Lars Wienand und Jerome Baldowski in ihrer Recherche für t-online. Menschen stürmen auf die Kreuzung. Erst Vermummte ohne, dann Vermummte mit Uniform. Die ganze Auseinandersetzung dauert wenige Sekunden, danach wird der verletzte Polizist weggezogen. Die Person am Boden wird liegengelassen. Nach einer Zeugenaussage tritt ein Beamter noch einmal auf dem am Boden liegenden Mann ein. Wer der Mann war, ist bisher unbekannt, seine Spur scheint sich verloren zu haben. Und der Polizist?

Zur Person des Polizisten gibt es nur ein Gerücht. Angeblich soll es sich dabei um einen Leipziger Polizisten mit guten Verbindungen in die Neonaziszene handeln. Auf Nachfrage, ob der verletzte Beamte Kontakte zu dem rechtsradikalen Kampfsportverein IFC habe, schweigt das Innenministerium. Ebenso gibt es keine Auskunft auf die Frage, wie es zur Verbreitung von derart eklatanten Fehlinformationen habe kommen können. Ebenfalls keine Auskunft gibt das Innenministerium zu der Frage, aufgrund welcher Informationen der Innenminister am 08.01. via Pressemitteilung verbreiten lässt, es habe eine von "Linkextremisten bewusst provozierte Auseinandersetzung und gezielte Angriffe auf unsere Polizistinnen und Polizisten" gegeben. Denn in der besagten Pressemitteilung kommentiert Wöller immerhin eine Verurteilung wegen Beinchenstellen, in der kein politischer Bezug festgestellt wurde.

Eine präventive Desinformationskampagne?

Hält man nun also die Leipziger Polizei und den sächsischen Innenminister nicht für derart inkompetent, dass sie einfach nicht wissen, was sie tun (was auch schon ein hinreichender Grund wäre, dass sie an den falschen Stellen sitzen), so lässt sich fragen, warum auch eine Woche nach den Vorfällen Fehlinformationen gestreut und ein Narrativ aufrecht erhalten werden soll, welches sich aufgrund der sukzessive recherchierten Informationen so nicht mehr halten lässt. Eine Antwort ist, dass Wöllers Kabinettskollege Gemkow gerade mitten im Wahlkampf steckt: Als Oberbürgermeister von Leipzig. Sein Thema? Sicherheit! Die Lösung? Polizei! Ob der frühere sächsische Justizminister und jetziger Wissenschaftsminister sich des Umstandes nicht bewusst ist, dass Polizei Sache der Landes- und nicht Kommunalpolitik ist oder bewusst falsche Zuständigkeiten suggeriert, ist hier nicht zu klären. Klar ist aber, dass ihm eine Kampagne unter dem Motto "Sicherheit gegen Links" einige Stimmen am rechten Rand sichern könnte. Und zur Mitte hin wäre es sicherlich hilfreich, wenn sich keine Fragen zu Denis van Ngoc stellen, mit dem der Justizminister bis 2014 eine gemeinsame Kanzlei unterhielt. Ngoc nämlich soll bestens in die rechtsextreme Szene vernetzt sein. Ein letzter Kontakt ist bis 2018 belegt.

Eine zweite Antwort ist der restliche Verlauf der Nacht am Connewitzer Kreuz. In ihrer Pressemitteilung schreibt die Polizei dazu: "Bis gegen 02:00 Uhr gab es im Bereich des Kreuzes immer wieder Angriffe auf die eingesetzten Kräfte. Erst dann entspannte sich die Situation und die Personen verließen den Ort." Nach den oben genannten Recherchen und einer noch umfassenderen Aufarbeitung von Aiko Kempen und Edgar Lopez für Buzzfeed kam es im Verlaufe der Nacht eher zu wahllosen Angriffen von Polizeieinheiten auf umstehende Personen. Dabei kam es zu mehreren Verletzten, unter anderem brach ein Nasenbein. Unter Berücksichtigung dieser neuen Erkenntnisse wäre es auch möglich, dass es der Leipziger Polizei daran gelegen war, eine möglichst dramatische Darstellung der nächtlichen Ereignisse zu ihren Gunsten möglichst früh zu platzieren. Denn nimmt man einmal, nur zum Spaß, an, die Beamt*innen der Pressestelle seien nicht vollständig inkompetent, sondern wüssten, dass Falschmeldungen mehr Leute erreichen als Korrekturen und könnten zudem noch davon ausgehen, dass die unterbesetzten Redaktionen am 01.01. die Pressemitteilung einfach übernehmen würden, so wäre so ein Vorgehen wohl ratsam.

Neues Ereignis und alte Probleme

Die Silvesternacht am Connewitzer Kreuz offenbart dabei alte Probleme. Zum einen scheinen polizeiliche Pressestellen chronisch unzuverlässig zu sein, wenn es um die Darstellung der eigenen Kolleg*innen geht. Bei Einsatzverläufen, wie dem an Silvester, haben sie etwa die Glaubwürdigkeitsstufe einer PR-Agentur. Weiterhin gilt, dass es in der deutschen Politik ein eklatantes Missverständnis zum Verhältnis von Polizei und Politik gibt. Während Rechte jeder Coleur die bedingungslose Unterstützung der deutschen Polizei forderten, verwies Mely Kiyak darauf, dass Misstrauen gegenüber der Polizei die Aufgabe der Politik sei. Als staatliches Organ mit herausgehobenen Rechten unterliegt sie einer besonderen Kontrollpflicht. Darum, so Kiyak, war Saskia Esken eigentlich die einzige Politikerin, die sich wie eine benahm. Zuletzt folgt aus der herausgehobenen Position der Polizei auch, dass polizeiliche Übergriffe schwerer wiegen als private. Dass die Verletzten aus der Silvesternacht auf ein strafrechtliche Verfolgung verzichten, weil sie Angst haben, selbst mit Gegenanzeigen zu rechnen, ist eine Katastrophe für den Rechtsstaat. Die in den beiden Artikeln beschriebenen und zum Teil gezeigten polizeilichen Gewaltexzesse bedürfen zumindest der gerichtlichen Überprüfung. Das wird aber Ausbleiben, solange jede Strafanzeige gegen Polizist*innen mit einer Gegenanzeige beantwortet wird und es keine Fehlerkultur in der Polizei gibt. Oder gar Ausgrenzung und Mobbing droht, wenn strafbares Verhalten zur Kenntnis gebracht wird.

Korrekturhinweis: In einer früheren Version hatte es geheißen Gemkow und Ngoc hätten eine gemeinsame Partei unterhalten. Es handelt sich natürlich um eine gemeinsame Kanzlei und wurde entsprechend korrigiert. Weiterhin wurde behauptet, Gemkow sei Justizminister. Dies war er im vorherigen Kabinett, jetzt ist er Wissenschaftsminister. Auch diese Angabe wurde korrigiert.

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