Das erste Mal erfuhr ich von der Hamburger Band Tocotronic auf dem Schulhof. 1995, ich war fast 16, und es war mein Schulfreund Stephan U. aus Frohlinde, der mir baff und aufgeregt von seiner Entdeckung erzählte und bereits wusste: Das hier wird ganz groß. Ich wunderte mich indes, wieso sich eine Band mit richtigen Instrumenten so nennt wie die Kirmesband Technotronic. Die Teenagerjahre zwischen 14 und 20 sind musikalisch die wichtigsten, weil oft prägendsten Jahre in den meisten Menschenleben. Man lernt coole Instrumente, gründet Bands, geht auf erste Festivals oder hat gar Auftritte in der Schulaula. Es war zeitlicher Zufall, dass meine musikalische Sozialisation sehr durch die Tocotronic-Alben von 1995 bis 1997 geprägt waren (Digital ist besser, Nach der verlorenen Zeit, Wir kommen um uns zu beschweren und Es ist egal, aber). Heute würde man Empowerment dazu sagen, denn die Musik von Tocotronic zeigte mir viel – und das, obwohl ich ein paar Jahre zu jung für derart studentische First-World-Problems gewesen bin. Tocotronic zeigten mir, wie man mit acht Gitarrenakkorden (C, F, G, D, Am, Dm, Em, Hm) ganze (herzzerreißende) Alben schreibt. Dass Popmusik voller Referenzen ist, die ich im Englischen nie verstand. Ohne Tocotronic hätte ich weder gewusst, wer Team Dresch oder Mark E. Smith/The Fall sind. Noch hätte ich so früh von Marcel Proust erfahren oder von Éric Rohmer. Namen und Verweise, die in meiner nichtakademischen Gastarbeiterfamilie genauso wenig eine Rolle spielten wie sonst in der mir bekannten eher amerikanischen Popwelt.
Auf Deutsch singen – das geht
Durch die Band lernte ich, dass Second-Hand-Trainingsjacken und Cordhosen zum modischen Statement taugten, was ein wenig Druck vom strapazierten elterlichen Geldbeutel nahm, weil plötzlich nicht mehr nur Air Jordan und Diesel-Jeans getragen werden mussten, um mit Mädchen und vermeintlich coolen Jungs ins Gespräch zu kommen. Durch Tocotronic lernte ich, dass jemand auf Deutsch singen kann, ohne dass ich Angst davor haben musste. Böhse Onkelz, die Toten Hosen oder Rammstein erinnerten mich laut skandiert an Hooligan-Fankurven in Fußballstadien und Neonazi-Sequenzen aus den Nachrichten, wenn es in Solingen und Rostock mal wieder lichterloh brannte. Deutsches Gegröle, sei es im Bierzelt, beim Fußball, im Rahmen großer Ansammlungen ist mir bis heute nicht geheuer und eine für mich kategorisch zu vermeidende Variable in der Alltagsplanung.
Ich lernte, dass Deutsch eine Popsprache sein kann, die verschachtelt, intelligent und dennoch emotional trotzig, catchy und subversiv ist. Ja, später lernte ich, das haben Fehlfarben und Ton Steine Scherben auch schon vermocht. Aber so viel zu der Sache mit dem Timing und dem Glück beziehungsweise Pech der Spätgeborenen.
Anfang des Monats hörte ich, der zweite Lockdown lief gerade an, den Opener des Albums Wir kommen um uns zu beschweren passiv-aggressiv laut in unserer Wohnung. „Nach der verlorenen Zeit hab ich erstmal mehr Zeit mit mir verbracht. Und öfters hab ich wach gelegen mitten in der Nacht./ Nach der verlorenen Zeit hab ich erstmal weniger gehasst. Man findet ja nicht immer etwas was einem grad nicht passt.“ Darauf der manische Refrain: „Jetzt geht wieder alles von vorne los!“. Ich erfreute und tröstete mich an dieser universalen Kraft der Popmusik. Dass sie in vielen Kontexten, auch ungeplanten, immer wieder neue Größen und Bedeutungen erlangt. Selbst wenn die Zukunft nur noch Nieten im Sack anzubieten scheint.
Persönliche Geschichten mit Tocotronic erzählt auch das wunderschöne Buch Sie wollen uns erzählen. Zehn Songs, die vom Who is Who der hiesigen Graphic-Novel- und Illustrator*innen-Welt visualisiert wurden. Von Digital ist besser von Jim Avignon bis zu Electric Guitar von Philip Waechter umspannt das Buch über 20 Jahre Band-Historie, und es ist eindringlich zu lesen und zu sehen, wo und in welchen Momenten Tocotronic-Songs in so vieler Leben bedeutsam waren und sind. Die frustrierende großstädtische Einsamkeit bei Tine Fetz’ Der schönste Tag in meinem Leben oder der psychedelische Fabelwald bei Anna Haifisch (Kapitulation). Die ewige und immer stärker werdende Dichotomie von Stadt (Julia Bernhard Warte auf mich auf dem Grund des Swimmingpools) und Land (Katja Klengel/Christopher Tauber Let there be rock). Neben der stilistischen Bandbreite – vom kräftigen schwarzen Pinselstrich bis zum zart kolorierten Pastell ist fast alles dabei – beeindruckt auch die typografische Inszenierung. Die Lyrics wabern bei Anna Haifisch tatsächlich kapitulierend durch die Panels und statt Menschen starren einen traurige Tiergesichter an. Mit ihrer Vorliebe für skurrile Außenseiter hat die Leipziger Künstlerin ein treffendes visuelles Pendant für Tocotronics Sonderlingduktus gefunden.
Gerade in Zeiten, in denen Musik keine gemeinsamen Räume hat, bietet solch ein Buch veritable Ansätze, Songs neu zu erfahren. Ich habe mir eine Playlist mit den zehn Songs angelegt und während der Lektüre gehört. Zwar war das kein Konzert, aber dennoch eine intensive Erfahrung, und sie hat mir eine der bedeutendsten Bands des Landes aus anderen persönlichen Perspektiven noch ein Stückchen näher gebracht.
Info
Sie wollen uns erzählen Michael Büsselberg (Hg.) Ventil Verlag 2020, 128 S., 25 €
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.