Die Geschichte von Vice liest sich rückblickend wie ein Punk-Märchen. Ein American Dream, der eigentlich ein kanadischer ist. Im Jahr 1994 gründen die drei Freunde Shane Smith, Gavin McInnes und Suroosh Alvi das multikulturelle Stadtmagazin Voice of Montreal. Es geht hier zunächst um Stadtfeste oder Auftritte haitianischer Musikgruppen. Die jungen Männer erhalten Sozialhilfe und das Magazin ist eine Art Arbeitsbeschaffungsmaßnahme, das unter strenger Beobachtung der Québecer Sozialämter steht. Wenige Jahre später machen sie sich unabhängig und benennen das Magazin in Vice um. Ende der 90er übernimmt der kanadische Software-Millionär Richard Szalwinski das Magazin und zieht das Team nach New York um, wo Vice sich schnell einen Ruf
„Vice“ ist insolvent: Tod durch Social Media?
Digitaler Journalismus Das Magazin „Vice“ löste in den Nuller Jahren MTV als stilprägend ab. Nun ist es insolvent – nicht nur wegen der Sozialen Medien
Ji-Hun Kim
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Hinter diesen Covern verbirgt sich manische Selbstausbeutung, eingetauscht für soziokulturelles Kapital
Cover: Vice
o Vice sich schnell einen Ruf als renitentes und provokantes Jugendmagazin erarbeitet, das alles ist, nur nicht politisch korrekt. Nach dem Platzen der Dotcom-Blase erkaufen sich Smith, McInnes und Alvi die Rechte von Szalwinski zurück.Es sind die Jahre nach 9/11. Und die Vice trifft nicht nur den Nerv der Millennial-Generation. Sie definiert sie nahezu. Seit 2002 ist das Magazin in England erhältlich und seit 2005 liegt das Heft auch in Deutschland in Klamottenläden wie American Apparel und Plattenläden aus. Skatekultur, Mode, Musik, Sex und Drogen sind die dominierenden Themen. Versuchte zu der Zeit das Berliner Magazin Lodown Subkulturen wie Skaten und Streetart auf eine künstlerische, Galerie-affine, ja, erwachsene Ebene zu hieven, war Vice der Crack rauchende Cousin, der einem erst in die Fresse schlägt, um danach im Überraschungsmoment einen Tritt in die Eier zu verpassen. Genau, Eier, weil die Hauptzielgruppe waren damals schon junge weiße Männer aus dem Mittelstand. Latent gelangweilte Studenten, die es lustig und pennälerhaft anrüchig fanden, wenn über Gangbangs, Bukkake, exzessiven Drogenrausch und über Jahre gärende Fäkalien in Einmachgläsern geschrieben wurde. Musikalben wurden nicht nur verrissen, oft waren es persönliche Beleidigungen Richtung Musiker:in. So wie die beliebte Sparte „Dos and Don’ts“, in der Outfits von Menschen auf der Straße übergriffig auseinandergenommen wurden. Vice war so etwas wie die erste internationale Troll-Plattform auf Papier. Lange bevor soziale Medien diese Rolle innehatten, und das mit immensem Erfolg.Was Jugendliche begeisterteDenn es waren auch die Jahre nach der MTV-Ära. Das Musikfernsehen hatte die Jugendkultur in den 90ern und frühen 2000ern wie kein anderes Medium geprägt. Es waren nicht nur die Musikclips, sondern auch die MTV News, Beavis and Butt-Head, The Tom Green Show oder sadomasochistische Mutproben-Formate wie Jackass, die Jugendliche begeisterten und den Ruhepuls der Eltern in die Höhe trieben. Als der Sender vom Medienriesen Viacom übernommen und in Deutschland zugleich die Konkurrenz Viva und Viva Zwei aufgekauft wurde, waren die Tage des einst innovativen Mediums gezählt. Zähe Unternehmensstrukturen, Quotendruck und Wachstumserwartungen bestimmten nun immer mehr die Inhalte.Vice setzte von Anfang an auf Reichweite. Die Magazine lagen gratis aus, man erkannte früh das Potenzial von Webseiten und Online-Content, und der damalige Kreativdirektor Spike Jonze setzte früh auf Videos, die mit dem Aufkommen von Portalen wie Youtube auch im Internet immer wichtiger und beliebter wurden. Werbekunden, die sich gerne im Schweiß der angesagten Jugend suhlten und Anschluss an die junge Zielgruppe suchten, umgarnten die Vice wie vice versa. Wenn Vice in Berlin im Rahmen der Fashion Week Partys organisierte, so berichten ehemalige Mitarbeitende, wurden zuvor die Drogen der halben Stadt aufgekauft. Work hard, play hard, was in der Regel aber auch hieß: underpayed and overworked. In New York sollen Redakteure/Redakteurinnen 22.000 Dollar im Jahr verdient und dafür 20 Stunden am Tag gearbeitet haben. Manische Selbstausbeutung im Austausch für soziokulturelles Kapital. Es gab ja genug Willige, die das Spiel bereitwillig mitmachten. Weil immerhin, man kann es heute so sagen, den Hipster hätte es ohne Vice vielleicht nie gegeben.Der weltweite wirtschaftliche Aufstieg begann 2013, als der Medienmogul Rupert Murdoch sich an dem Unternehmen mit 70 Millionen Dollar beteiligte. Dafür erhielt er einen Anteil von fünf Prozent. Über Nacht wurde aus Vice eine Firma mit Milliardenwert und binnen kürzester Zeit ein digitales Imperium mit unübersichtlich vielen Medienmarken. Neben dem Nachrichtenkanal Vice News gab es Musik bei Noisey, Food bei Munchies, Technik bei Motherboard, Sport bei Vice Sports, Kunst bei Garage, Videospiele bei Waypoint, LGBTQI-Themen bei Broadly und einige mehr. Nicht zuletzt wurde das Modemagazin i-D gekauft und 2019 das Online-Magazin Refinery29, das sich an junge Frauen richtet und rund 460 Millionen Dollar gekostet haben soll. Im Jahr 2016 wurde der Firmenwert von Vice Media auf 5,7 Milliarden Dollar taxiert. Im selben Jahr verkündete die Firma die Expansion auf über 50 Länder weltweit. Zu Hochzeiten arbeiteten 3.000 Menschen für Vice Media. Zeitgleich profilierte sich Vice mit journalistischen Glanzstücken wie dem Besuch des Basketballstars Dennis Rodman in Nordkorea, Berichten über den IS und Reportagen vom Euromaidan in der Ukraine. Diese und viele andere Geschichten definierten den Embedded Journalism des 21. Jahrhunderts und brachten den subjektiven Gonzo-Journalismus auf ein neues Niveau.Der einstige Markenkern, die Provokation und das Trollen, wurde mit der Wahl von Donald Trump 2016 zum US-Präsidenten jedoch zum tagespolitischen Mainstream. Fast ironisch mutet an, dass der einstige Vice-Mitgründer Gavin McInnes, der die Firma bereits 2008 wegen „kreativer Differenzen“ verließ, 2016 als Gründer der rechtsextremen Proud Boys wieder öffentlich in Erscheinung trat. Die Proud Boys sind ein neofaschistischer, anti-feministischer und antisemitischer Männerbund, der sich selber als verlängerter Arm von Trump versteht und maßgeblich am Angriff auf das Kapitol 2021 in Washington beteiligt gewesen sein soll. Zahlreiche weiße, männliche Vice-Hipster von einst haben sich nach ihrer Jugend radikalisiert. McInnes, der einst für den impertinenten Duktus der Vice verantwortlich war, wurde zum Poster Boy eines entrückten politischen Diskurses, in dem Provokation, Verschwörung und Spaltung zum ausschließlichen Instrumentarium geworden sind. Dass nun George Soros sich an der Rettung von Vice beteiligt, bestätigt sie nur in ihrer Weltsicht des abendländischen Untergangs. Ein Konsortium aus der Fortress Investment Group, Monroe Capital und Soros Fund Management soll aktuell 225 Millionen Dollar für den Kauf bieten.Die Insolvenz von Vice zeigt vor allem auch die allgemeine Krise des digitalen (Kultur-)Journalismus. Der Mitbewerber Buzzfeed hat kürzlich seine Pulitzerpreis-gekrönte News-Sparte dichtgemacht. Vox Media streicht zahlreiche Stellen, und selbst bei der New York Times sind es weder die großen Reportagen noch die qualitätvollen journalistischen Arbeiten hinter der Paywall, die finanziell für Sicherheit sorgen. Gewinnbringend sind die hauseigene Koch-App, Puzzles wie Wordle und der Produktguide Wirecutter. Hinzu kommt, dass Werbekunden heute nicht mehr zwingend journalistische Medien benötigen, um Anzeigen auf eine Zielgruppe anzupassen. Instagram, Tiktok, Twitter, Youtube und Facebook kennen ihre User und deren Bedürfnisse durch permanente Spionage wesentlich besser. Ein Gros der globalen Werbeausgaben fließt ohne Umwege ins Silicon Valley.Für die Generationen Z und Alpha ist Vice Media heute ein genauso träges und filziges Medienimperium wie einst MTV für Millennials. Dass der Vice-Mitgründer Shane Smith Milliardär ist und für 23 Millionen Dollar eine Villa in Santa Monica kauft, macht ihn nicht zum Rolemodel einer Generation, die definitiv andere Interessen hat als zweifelhafte Frauenfotos von Terry Richardson und obsolete, Testosteron-induzierte Punk-Attitüden. Youtuber, Twitch-Streamer und Influencer zeigen, wie man heute mit wenigen Mitteln und ohne teure Reportagenbudgets Content auf Augenhöhe erzeugt. Ob das für eine mannigfaltige und inspirierende Medienlandschaft reicht, ist eine völlig andere Geschichte.Vice wird nach dem Verkauf mit Sicherheit weitermachen. Wahrscheinlich ist aber ein Fortbestand, der dem Schicksal von MTV nicht unähnlich sein dürfte. Für konservative Kritiker:innen in sozialen Medien ist der Grund für den Absturz so einfach wie verkürzt. Die Kommentarspalten unter den Insolvenznachrichten sind voller Häme, und dort gibt es hauptsächlich einen Satz zu lesen: „Go woke, go broke.“