Vom Russen auf die Fresse

Techno Nina Kraviz gehört zu den meistgebuchten DJs der Welt. Mit ihren Labels macht sie die Szene ihrer Heimat bekannt
Ausgabe 03/2019

Beginnen wir mit einer polemischen Fangfrage. Nennen Sie mir fünf weltweit bedeutende Pop-Künstler*innen aus Russland. Einigen mag einfallen, dass die deutschen Scorpions und Modern Talking in Russland wie Weltstars gefeiert werden. Andere erinnern die politische Punk-Band Pussy Riot, jedoch weniger wegen ihrer prägenden Alben. Anfang des Jahrhunderts gab es das seinerzeit skandalöse, weil knutschende Duo t.A.T.u., das es immerhin zum globalen One-Hit-Wonder schaffte.

En bref: Die Pop-Geschichtsschreibung unterlag von Beginn an einem westlichen Narrativ. Im Sinne Adornos spiegelt die Popkultur ja stets die herrschenden Klassen und Systeme wider. Und Popkultur ist ohne Kapitalismus in der Tat schwierig zu denken.

Die Geschichte der elektronischen Clubmusik sieht ähnlich aus. Die Genese von Techno, die mythischen Orte, die Maschinen – Detroit, Berlin, Tokyo. Und auch in der derzeit stattfindenden Historisierung einer der letzten großen Sub-/Soundkulturen des 20. Jahrhunderts spielen Länder wie Russland so gut wie keine Rolle. Dabei gab es durchaus in den 1990ern elektronische Musikszenen in Moskau. Nur wissen eben die wenigsten davon.

Die aus Sibirien stammende DJ, Produzentin und Label-Betreiberin Nina Kraviz hat in den letzten zehn Jahren eine beispiellose Karriere vorgelebt. Die 33-Jährige gehört heute zu den meistgebuchten und wohl auch bestbezahlten Techno-DJs der Welt. 2017 kürte das Magazin Mixmag sie zur DJ des Jahres. 2018 spielte sie weit über 120 Gigs in über 60 Ländern. Im heutigen Milliardengeschäft Techno und House mischt Nina Kraviz in der Beletage mit und nutzt derweil Popularität und Einfluss, um Techno-Sounds aus Russland neu zu kartieren. 2014 gründete sie dafür das Label трип (Trip). 2017 kam das Label Galaxiid dazu.

Der Geist der Improvisation

Es geht bei Kraviz nicht um Patriotismus. Einer der bekanntesten Label-Artists ist der Isländer Bjarki. Kraviz verfolgt eine Idee von Sound, der nie im Sektor der Gefälligkeit versumpft, sondern fordert, brachial sein darf, schnell ist und das Hardcore Continuum dekliniert. Oder im Raver-Deutsch: gern mal auf die Fresse gibt. Durch ihre Arbeit verschaffte sie einigen russischen DJs und Produzenten internationale Aufmerksamkeit. Roma Zuckerman und Wladimir Dubischkin zählen dazu. Einige dieser Namen finden sich auf der aktuellen трип-Compilation Happy New Year! We Wish You Happiness!. Ein sequenziell dystopischer Dancefloor-Entwurf für ein vorsatzgeschwängertes Jahr 2019. Kraviz’ zweites Label Galaxiid bringt Anfang Februar das Album Xrated des Moskauer Musikers Solar X von 1997 erstmalig als Vinyl-Reissue heraus. Roman Belawkin gilt Experten als der russische Aphex Twin und war mit diesem Album der erste Künstler des Landes, der je auf einem US-Label veröffentlichte. Noch so eine verblasste Fläche im Gesamtgemälde, die neu aufgetragen wird. Wie auch die aktuelle Compilation Resonance Moscow News 12/18 des Radio-DJs Nikita Zabelin. Hier völlig unbekannte Produktionen, die noch den subversiven Geist der technischen Limitierung und Improvisation atmen und zeigen, dass es in Russland eine Szene junger – auch kritischer – Kreativer gibt, deren alltagspolitischer Struggle im Vergleich zu jenem in Berlin und London ungleich härter ausfallen dürfte.

Info

Happy New Year! We Wish You Happiness! Various Artists Trip 2018

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