Vor zwei Wochen gab es in 32 mexikanischen Städten Demonstrationen, an denen mehr als 30.000 Menschen teilnahmen. Es waren Demonstrationen, wie sie in Deutschland wahrscheinlich schwer vorstellbar sind: Nicht gegen Atomkraft oder Genpflanzen, oder für einer Skatehalle in Kiel. Die Mexikaner protestierten gegen die unerträgliche Gewalt im Lande. In den vergangenen sechs Jahren wurden mehr als 40.000 Menschen ermordet. Wie zu höhnischen Bestätigung kam nur ein paar Stunden nach den Demonstrationen die Nachricht, dass ein Massengrab mit 59 Leichen in einer Ranch in San Fernando, einer Gemeinde in der Nordprovinz Tamaulipas, entdeckt worden war.
Fünf Tage später, am 12. April, waren es schon 116 Leichen, noch einmal zwei Tage später summierte sich die Zahl der gefundenen Leichen an diesem Ort auf 145. Die höchste Zahl bislang.
Zugeschrieben werden die Morde der Drogenhandels-Organisation Los Zetas, die auch für die Massaker an 72 Migranten aus Honduras, El Salvador und Guatemala im August 2010 verantwortlich war. Mexikanische Beamte erklärten, dass diesmal die Opfer Mexikaner waren, welche vor sechs oder acht Wochen aus Linien- und Reisebussen entführt worden waren. Es wurde aber auch schon ein Gutemalteker unter den Todesopfern erkannt. Als Hintergrund vermuten die Behörden, dass diese entweder um Geld erpresst wurden, oder als Zwangsmitglieder des Drogenkartells Los Zetas „angeworben“ werden sollten – und wer sich weigerte oder nicht zahlen konnte, büßte mit dem Leben.
Migranten: nur ein weiteres Handelsgut
Die Regierungen Zentralamerikas gaben sich noch vergangenes Jahr erschrocken über solche Taten. Dabei wussten sie davon seit langem. Die Massaker an Migranten begannen schon vor 2007. Damals berichtete das FBI, dass Drogenhandels-Organisationen an der Entführung und Ermordung von Migranten teilnahmen. Die Nationalkommission für Menschenrechte (CNDH) in Mexiko veröffentlichte einen Bericht, wonach 11.333 Migranten zwischen April und September 2010 entführt wurden, die meisten kamen aus Mittelamerika. Für die Drogenkartelle wie Los Zetas sind die Migranten nur ein weiteres Handelsgut.
Los Zetas war eine Gruppe von Elitesoldaten, die ab 1997 als Profikiller-Einheit für das "Cartel del Golfo" arbeiteten, einem damals in Nordmexiko operierenden Drogenkartell. Doch Los Zetas wuchs zu schnell und setzte sich vor etwa zwei Jahren vom Cartel del Golfo ab. Seither kämpfen die beiden Organisationen um die Herrschaft über den Drogenhandel in ganz Mexiko. Die CNDH bestätigte 2009, dass Kommunalbeamte an den Entführungen teilnahmen und dass diese am helllichten Tag in Städten und Staaten wie Tenosique, Tabasco, Coatzacoalcos, Medias Aguas, Tierra Blanca, Veracruz, Ixtepec, Oaxaca, Saltillo, Coahuila, Reynosa, Nuevo Laredo und Tamaulipas stattfanden.
Die salvadorianische Zeitung El Faro recherchierte 2009 ein Jahr lang unter Migranten in Mexiko und berichtete, wie die Entführungen durch Los Zetas funktionierten. Kartell-Mitglieder mischten sich unter die Pasagiere in den Zügen, in denen die Migranten schwarz fahren, um herauszufinden, welche unter ihnen Familienangehörige in den USA hatten. Diese entführten sie auf Gehöfte auf dem Land und forderten zwischen 500 und 5.000 Dollar Lösegeld. Das waren die sogenannten Express-Entführungen. Auf jeder Ranch gab es einen Metzger. Die Migranten, für die sich niemand verantwortlich zeigte, wurden ermordet, der Metzger schnitt ihre Körper in kleine Stücke, und sie wurden verbrannt.
Die Autobahnen sind das Symbol der Macht der Kartelle
Inzwischen sind die Opfer nicht nur Migranten, sondern auch viele Mexikaner. Bürger, die in die Ferien fahren, die in Nord-Mexiko wohnen , die über die Autobahnen fahren – Mexikaner, die in Angst leben. Die mexikanische Journalistin Marcela Turati erzählt in ihrem Buch Fuego cruzado (Kreuzfeuer), wie Unschuldige im staatlichen Krieg gegen den Drogenhandel ermordet werden. In vier Jahren Recherche hat sie ermittelt, dass Männer, Frauen und Kinder wegen „Fehlern“ der Militärs starben oder zu Kollateralschäden der Auseinandersetzungen zwischen Militär und Cartels wurden.
Der Norden Mexikos schaudert vor den Cartels. Vielen Bürgern wurden die Häuser schlicht abgenommen, um dort Drogen, Waffen und Entführungsopfer zu verstecken. In einem Artikel der Zeitung Reforma erzählt eine Landverkäuferin, dass viele Leute ihre Häuser aufgegeben haben, dass Immobilien, die eigentlich 2 Millionen Pesos (etwa 119.000 Euro) kosten, nicht für 400.000 Pesos (etwa 24.000 Euro) verkauft werden können.
Die Autobahnen in ganz Mexiko sind zum Symbol der Macht der Kartelle geworden. Polizisten aus Tamaulipas erklärten in der Reforma, dass die Kartelle die Autobahnen in der Provinz kontrollieren: Sie unterhalten „Checkpoints“, stoppen die Busse und entführen die Passagiere. Die zuständigen Behörden haben aufgegeben oder werden bestochen.
Trotzdem wird die mexikanische Krieg gegen Drogenhandel von den US-Drogenkontrollbehörde DEA als erfolgreich angesehen. Am 5. April bekundete die DEA-Verwaltungsleiterin Michele Leonhart, dass gerade die aktuelle Gewaltwelle ein Zeichen des Erfolgs bei der Bekämpfung des Drogenhandels sei. Die Cartels gebärdeten sich wie Tiere, weil sie sich eingesperrt fühlten. Als Ziel bezeichnete sie, dass das Gewaltniveau „handhabbar“ werde. Leonharts Optimismus teilt nicht jeder. Thomas Harrigan, Chief of Operations der DEA, erklärte am 1. April vorm Internen Sicherheitskomitee des US-Senats, dass die Gewalt in Mexiko zunehmen könnte, obwohl der Kampf der mexikanischen Regierung heroisch sei.
Verhaftungen als große Show
Diese veranstaltet nun vor allem eine Show mit der Verhaftung von Tätern der letzten Massaker. Bis zum 20. April wurden 60 Männer verhaftet, unter denen sich Martín Omar Estrada Luna, Bezirkschef von Los Zetas, befindet. Außerdem wurden 16 Polizisten von Tamaulipas festgenommen, weil sie mit dem Cartel zusammengearbeitet haben. Zwei Wochen nach der Entdeckung der Leichen in Tamaulipas wurden nur fünf der 145 Opfer identifiziert. Die Behörden wollen die liegen gebliebenen Koffer in den Bussen an der mexikanisch-US-amerikanischen Grenze als Spur nutzen, um die Namen der Opfer herauszufinden.
In dieser Lage kommt der deutsche Bundespräsident Christian Wulff zusammen mit Abgeordneten und Unternehmern auf Staatsbesuch nach Mexiko. Laut der Internetseite der deutschen Botschaft in Mexiko sind die Themen vor allem: Mexiko als ökonomischer Partner und Forschungsstandort. Nun wurde die Tagesordnung schon vor dem jüngsten Leichenfund formuliert. Doch Tatsache ist, dass Mexiko schon seit vielen Jahren in Gewalt versinkt, es vor den mexikanischen Staatsbürgern die Migranten aus den angrenzenden Ländern traf, und sich darum niemand groß gekümmert hat: Kein Thema für Wulff?
Aber vielleicht ist es nicht nur Wulff, der die Qual des Landes nicht erkennt. Der mexikanische Finanzstaatssekretär Ernesto Cordero bekundete diese Woche, dass der Drogenhandel die Investitionen im Land nicht behindert habe. „Im Gegenteil, in Mexiko gibt es immer mehr ausländische Investitionen, mehr Arbeitsplätze werden geschaffen, und es gibt mehr ökonomisches Wachstum”, sagte Cordero. Sicherlich ein guter Grund, warum das reiche Deutschland auf den potenziellen ökonomischen Partner aufmerksam wird. Die Wissenschaftlerin Vanda Felbab-Brown an der Brookings Institution vermutet allerdings, dass die illegale Ökonomie 1 bis 2 Prozent des BIP umfasst.
Die Frage ist nun, welche Rolle die Gewalt in Mexiko für deutsche – oder auch europäische – staatliche und wirtschaftliche Interessen spielen sollte. Sind Christian Wulff und seine Delegation verpflichtet, die hässliche Seite des Landes zu sehen, wenn sie nur die schöne wahrnehmen wollen? Möchten sie die Bewältigung der hässlichen Seite den USA überlassen, die längst Teil des mexikanischen Kriegs gegen den Drogenhandel sind? Kommen deutsche Politiker in Länder mit international bekannten Menschenrechtsproblemen, rühmen sie sich stets, diese auch angesprochen zu haben. Die Gewalt in Mexiko, an der der Staat durch Korruption, Duldung, und militärische Fehlleistungen beteiligt ist, ist auch ein Menschenrechtsproblem. Mindestens das.
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