Äpfel und Birnen vergleichen

Der Koch Unser Autor lernt in der französische Provinz die Vorzüge des Gesprächs am Marktstand kennen
Ausgabe 39/2017
In Frankreich kann der Markteinkauf auch mal länger dauern, denn es gibt einiges zu besprechen
In Frankreich kann der Markteinkauf auch mal länger dauern, denn es gibt einiges zu besprechen

Foto: Gottfried Czepluch/Imago

Marktflecken. Dieses Wort ist mir wieder in den Kopf gekommen, hier im Burgund, wo ich mich für ein paar Wochen aufhalte. Die französische Provinz, langjährige Leser der Kolumne wissen das, ist im Spätsommer eine Muss-Destination für mich, auch in diesem Jahr. Und das, obwohl bei unseren französischen Nachbarn eine Landflucht mit beängstigenden Ausmaßen eingesetzt hat.

Auch hier in der Côte d’Or, nur zwei Stunden von Paris entfernt, passiert man ständig kleine Dörfer, in denen das „A vendre“-Schild an mehr Häusern hängt, als Autos auf der Straße stehen. Cafés und Bistros, in denen man früher nachmittags oft Leute beim Aperitif gesehen hat, sind verrammelt. Die Provinz, einst als das französischste Frankreich angesehen, hat morbiden Anstrich bekommen. Auf Boule-Plätzen stehen Pfützen, Kirchen sind geschlossen. Einkaufen kann man meist nur noch in den größeren Ortschaften, an den Ausfallstraßen ballen sich die Filialen der Supermarktketten Intermarché oder Carrefour, manchmal auch Aldi. Die Parkplätze sind grenzenlose Areale.

Nur an einem halten die Franzosen trotzig fest: ihren Märkten. Wenn Markttag ist, erwachen Ortschaften zu vergleichsweise quirligem Leben. Die Menschen kommen auf die Straße. Auf einmal stehen nicht nur Stände auf den Plätzen, drum herum sind an Geschäften, die man für lange aufgegeben hielt, die Gitter aufgezogen. Marktflecken hat man früher solche Orte genannt, heute könnte die Bezeichnung nicht besser passen für die bunten Tupfer, die zeitweilig in der grauen Tristesse des Landlebens aufleuchten.

Das Besondere an diesen Märkten ist für mich gar nicht mehr das Angebot. Auf deutschen Wochenmärkten kann man heute mindestens ebenso gut einkaufen wie in Frankreich. Es ist die Zeit, die man hier für das Einkaufen investiert. Bilden sich kleine Schlangen und man hat drei oder vier Kunden vor sich, kann man sich schon auf eine Viertelstunde Wartezeit einrichten. Viele machen das geduldig, sie unterhalten sich schon beim Anstehen. Ist man an der Reihe, erwacht hier das, was ich in Deutschland nicht kenne: der, nein, vor allem die kritisch-kommunikative Kundin. Es kann schon einige Minuten dauern, auch wenn der Einkauf nur aus einem Kopf Salat besteht. Denn es gibt einiges zu besprechen. Man kennt sich, man erkundigt sich nach dem Befinden, auch der Familie. Die Essensplanung wird erwogen, Zubereitungstipps ausgetauscht, aber all das ist nur Begleitmusik für ein sehr viel ernster geführtes Gespräch über das Angebot: „Ach, die Birnen kommen aus der Normandie. Na ja, in den letzten Jahren waren die aber nicht mehr so fein und zart.“ – „Aber Madame, für Ihre Birnentarte genau richtig. Sie zerfallen nicht gleich.“ So geht der Qualitätsdiskurs hin und her. Niemand in der Schlange stört sich daran, niemand hört weiter zu, man will sich das eigene Käufergespräch nicht verderben. Und außerdem: Was weiß schon Madame, wie die Birnen sein müssen?

Diese kritisch-kommunikative Kundschaft, mir wird sie bei der Rückkehr fehlen. Berlin wird ja eine immer polyglottere Stadt. Im Frühsommer stand auf dem Markt eine Frau vor mir, mit hörbar spanischem Akzent. Sie drückte fast jede Tomate, sie erzählte dem Verkäufer empört, dass seine Petersilie schon nach zwei Tagen den Kopf habe hängen lassen. Sie produzierte eine kopfschüttelnde Schlange. Und ich? Ich habe mir vorgenommen, beim nächsten Mal zu fragen, von welchem Land denn nun die Landgurken stammen.

Jörn Kabisch schreibt als Der Koch für den Freitag regelmäßig über Küchen- und Esskultur

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Geschrieben von

Jörn Kabisch

Stellvertretender Chefredakteur des Freitag von 2008 - 2012 und Kolumnist bis 2022, seitdem Wirt im Gasthaus zum Schwan in Castell

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