Der Hauptgang ist mein Nachtisch

Der Koch Abschmecken nicht vergessen: Ein Gericht gelingt immer dann besonders, wenn es zu jedem Zeitpunkt schmeckt und überzeugt. Über den Sinn des Naschens
Ausgabe 47/2014
Sollte immer neben dem Herd stehen: Ein leerer Probierteller
Sollte immer neben dem Herd stehen: Ein leerer Probierteller

Foto: karandaev/Fotolia

Da kocht man jahrelang und vergisst die einfachsten Regeln. Wochenlang habe ich mich gefragt, was mit meinem Essen los ist. Es schmeckte, aber es war nicht perfekt. Nur meine Gäste hatten nichts auszusetzen. „Du spinnst“, sagte meine Lieblingsesserin, „du machst einen Zirkus, als ob du das Kochen verlernen würdest, dabei fehlt nur ein bisschen Salz.“

Aber ich wusste, es lag nicht am Salz. Da war mehr. Kam ich aus der Übung? Hatte sich mein Geschmack verändert? Warum saß ich vor dem Teller und konnte einfach nicht genießen? Ich bekam eine Heidenangst. Und irgendwann merkte ich, was los war. Ich hatte vergessen zu probieren. Lachen Sie nicht! Sie glauben, das sei doch banal. Weil Sie beispielsweise den Kartoffelsalat seit Jahren nach demselben Rezept zubereiten, weswegen der immer gleich und gleich gut schmeckt. Und das Topfguckertum wird überschätzt.

Können Sie sich noch erinnern, wie Sie als Kind aus Töpfen genascht haben? Ich kann es. Ich weiß noch, wie ich mir den Mund an kochend heißen Nudeln verbrannt habe oder wie flüssiger, warmer Pudding schmeckt, bevor er in den Kühlschrank kommt. Es gab böse Worte, manchmal bekam ich auch was auf die Finger.

Aber dass das Naschen vor allem bei meiner Großmutter, gelernte Haushälterin und beste Knödelmacherin der Welt, verboten war, hat die Versuchung und den Genuss nur noch gesteigert. Der Erste zu sein, der die Alchemie kostet, die im Gulaschtopf vor sich geht: Das bedeutete für mich damals größten Luxus und ist bis heute der Grund, warum ich eifersüchtig den Herd bewache. Als Koch hat man das naturgegebene Recht auf das erste Mal.

Was einen nicht davon abhalten sollte zu kosten. Von Beginn an. Nicht nur, weil die Erfahrung zeigt, dass ein Gericht immer dann besonders gelingt, wenn es zu jedem Zeitpunkt schmeckt und überzeugt – und sei es nur, weil der Koch es anschließend mit zufriedenem Lächeln auf den Tisch trägt. Sondern auch, weil die Prozesse während des Kochens die eigentliche Sensation und der Lohn sind für den, der sich Stunden an den Herd stellt für etwas, das manchmal in Sekunden reingehauen wird. Nur er hat mitverfolgen dürfen, wie die Aromen sich ausgebildet, miteinander verbunden und Tiefe entfaltet haben. Das ist im besten Falle wie Kino, und, ja, es kann auch zum Horrorfilm werden – ohne Happy End.

Aber es ist immer ein Erlebnis, das nur der Koch nachvollziehen kann, wenn das Essen auf dem Tisch steht und er auch immer schön probiert hat. Ich sitze manchmal mit meinen Gästen am Tisch, nehme nur noch ein paar Bissen und erinnere mich, wie die Soße ohne den Löffel Senf schmeckte und bevor ich sie mit Butter montiert hatte. Naschen ist das Dinner des Kochs, das eigentliche Essen nur der Nachtisch.

Es erscheint paradox: Wer viel probiert, muss weniger korrigieren. Es lohnt sich auch immer bei den alten, tausendmal bewährten Rezepten. Erstens weil man sie immer verbessern kann, zweitens weil Zutaten nie gleich schmecken.

Wie konnte ich das alles nur vergessen? Ich habe nun eine kleine Untertasse neben den Herd gestellt. Das ist meine Abbitte. Ich habe mich oft gefragt, warum ausgezeichnete Restaurantköche nicht nur dazu raten, einen Klecks Soße von einem kleinen Teller zu lecken, sondern es auch praktizieren. Die Erklärung: Auf dem Teller kühlt die Speise ab, es kommt Luft dran, deswegen schmeckt man mehr. Aber es gibt noch einen wichtigen Grund für die seltsame Untertassengewohnheit. Mit dem Geschirr wird das Probieren zum Ritual. Deswegen bleibt das Geschirr stehen, auch wenn ich schon wieder einen Löffel benutze. Vielleicht brauchen die Leute öfter was auf die Finger, damit sie mehr naschen.

Jörn Kabisch schreibt als Der Koch für den Freitag regelmäßig über Küchen- und Esskultur

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Geschrieben von

Jörn Kabisch

Stellvertretender Chefredakteur des Freitag von 2008 - 2012 und Kolumnist bis 2022, seitdem Wirt im Gasthaus zum Schwan in Castell

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