Der Sommerkanzler

Kommentar Otto Schily überall

Langsam fragt man sich, ob Gerhard Schröder Otto Schily eine Urlaubssperre erteilt hat. Möglich wäre das, nach dem einstimmigen Rücktrittsverbot, das das Kabinett schon im Frühsommer beschloss, als der fast 70-Jährige das erste Mal von Amtsmüdigkeit gesprochen hatte. Schily jedenfalls hat in zwei Wochen eine Agenda abgearbeitet, die mancher seiner Kollegen nicht in einem Jahr hinter sich bringt: Alles begann mit Marianne Birthler, dem Streit über die Herausgabe von Helmut Kohls Stasi-Akten und einem sehr umstrittenen Weisungsrecht des Innenministers - aus dieser Bredouille aber hat sich der Innenminister inzwischen elegant zurückgezogen. Dann erwachte nach dem Bericht der Süssmuth-Kommission die Diskussion um das Einwanderungsgesetz neu, das dem Innenminister am Herzen liegt und das er - komme was wolle - noch in diesem Jahr durchs Parlament pauken will.

Nun noch ein paar Stichworte zum Thema Innere Sicherheit, dem eigentlichen Feld Schilys und in Hamburg wahrscheinlich wahlentscheidend: Natürlich mischte sich der Innenminister in die Sexualtäter-Debatte ein, beschimpfte gleichzeitig deutsche Gewalttäter in Göteborg und kommende in Genua. Der »periodische Sicherheitsbericht«, den das Innenministerium vorige Woche veröffentlichte, ist ein Wälzer, der zu anderen Zeiten Stoff für monatelange Diskussionen hergäbe. Am Ende besuchte Schily noch das Schlesiertreffen, musste nicht nur die Pfiffe und Buhrufe aus der NPD-Ecke übertönen, sondern aus dem ganzen Saal und verließ Nürnberg doch ohne das nassgeschwitzte Hemd, das sich der Kanzler jüngst beim Bauerntreffen geholt hatte.

Schily ist überall, und dass der Innenminister zur Zeit das Sommerkanzleramt besetzt, liegt an seiner Rolle in der Mannschaftsaufstellung der Schröder-SPD: Er gibt den Ausputzer am rechten Spielfeldrand und hat dabei noch Kreativqualitäten. Er ist, das unterscheidet ihn von so manchem Konservativen, die Schily am liebsten abwerben würden, erfrischend unpopulistisch. Der Mann, der von »spröde« bis »humorlos« schon so ziemlich alle trockenen Attribute auf sich gezogen hat, gibt den großen grauen Fleck im Sommertheater.

Er passt ins Kabinett, weil er inzwischen sein darf, was er Zeit seines Lebens war, egal ob als RAF-Verteidiger, als Grüner oder inzwischen als Rechtsausleger der SPD, ein Außenseiter. Jemand, der bald das älteste Kabinettsmitglied seit Adenauers Zeiten wird, bekommt da Narrenfreiheit. Deswegen auch hat Schily in den vergangenen zwei Wochen praktisch die Politik bestimmen dürfen und sich, was den Stil angeht, genau als Anti-Schröder präsentiert: Feste statt ruhige Hand. So was wünscht man sich im Urlaub.

Den eigenen hätte er sich nun wirklich verdient. Doch Otto Schily in der Sommerfrische ohne Krawatte und einem Campari? Unvorstellbar!

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Geschrieben von

Jörn Kabisch

Stellvertretender Chefredakteur des Freitag von 2008 - 2012 und Kolumnist bis 2022, seitdem Wirt im Gasthaus zum Schwan in Castell

Jörn Kabisch

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