Eine Frage der Reife

Der Koch Das Gartenjahr geht zu Ende. Zeit für ein Resümee: Was man im Garten für die Küche lernt
Ausgabe 41/2014
Eine Frage der Reife

Bild: Sajjad Hussain / AFP

Der Spätsommer hat mir noch eine letzte Tomate geschenkt. Tiefrot hängt sie an der Rispe, die Nachbarn daneben sind grün geblieben: Aus denen wird nichts mehr. Doch auch das letzte rote Exemplar, so reif es auch aussieht, erinnert nicht einmal mehr an die fruchtig-süßen Schwestern aus dem August. Die Tomate schmeckt grün. Nach Supermarkt.

Mein erstes Gartenjahr geht zu Ende. In vielen Beeten liegt nackte Erde. Ein paar Disteln blühen gelb, wo ich vor Wochen die Kartoffeln ausgegraben habe. Die letzten Triebe des Pflücksalats haben ein paar Mannschaften grüner Pelzraupen unter sich aufgeteilt. Sie raspeln sich durch das Grün, als ob es Medaillen zu verteilen gäbe.

Es war ein Jahr des glücklichen Scheiterns. Als Gärtner wie als Koch. Der Gärtner musste damit kämpfen, dass einiges nicht kommen wollte – aus welchem Grund auch immer. Radieschen zum Beispiel, obwohl ich reichlich davon säte, bekam ich nie zu Gesicht. Anderes wuchs mir dafür über den Kopf, allen voran die Zucchini. Ein Ungetüm. Der Koch dagegen bekam wie bei der letzten Tomate einen neuen Begriff davon, was reif ist und was nicht. Inzwischen ist das für mich eine recht fließende Vorstellung. Wirklich reifes Obst und Gemüse, Produkte, die an Geschmack und Saftigkeit am Limit sind, das war mein Ziel. Darum, dachte ich, muss es doch jedem Koch gehen, der seine Hände in die Erde steckt. Nach diesem ersten Jahr weiß ich: Das Gegenteil trifft eher zu. Meine Fantasie als Koch war besonders dann gefragt, wenn ich den richtigen Zeitpunkt zu ernten verpasste, und das geschah oft.

Ich dachte mir nichts, als einer der Apfelbäume schon im Mai die ersten Früchte verlor. Sie waren grün, hart und sauer. Woche für Woche sammelte ich Äpfel, schmiss sie auf den Kompost und wartete, dass rote Bäckchen bekam, was noch am Baum hing. Als ich dann endlich auf der Leiter stand, inmitten von aufgeregten Wespen, zerfielen mir die Äpfel schon in den Fingern zu Mus.

Die Zwetschgen wiederum habe ich zu früh geerntet. Ich wollte den Fehler einfach nicht noch mal machen. Aber was soll man mit harten, sauren Früchten, die nur einen Vorteil haben, nämlich noch nicht von Maden zerfressen zu sein? Ich war auf das scharf-saure Zwetschgenchutney, das es mal zum Räucherfleisch gab, ganz stolz. Und wünschte heute, ich hätte mehr von den unreifen Exemplaren gepflückt.

Wenn ich aber den idealen Zeitpunkt erwischte, erlahmten meine Ambitionen als Koch sofort. Ich war unfähig, mir vorzustellen, dem Geschmack einer saftigen Tomate oder einer süßen Himbeere noch mehr hinzufügen zu können. Ich steckte sie mir einfach in den Mund. Das waren die luxuriösesten Momente. Ich habe inzwischen eine andere Erwartung an das, was viel zu oft als „frisch und vollreif“ angepriesen wird und was wir gern in der Gemüseabteilung vermissen. Und ich frage mich, was blödsinniger ist: die Etikettierung oder die Erwartung, die Konsumenten deswegen an das haben, was in ihrem Einkaufskorb liegt? Kann es nicht sein, dass bei Obst und Gemüse so kleine Unterschiede zwischen Un-, Voll- und Überreife bestehen wie bei einem Steak, das blutig vom Grill kommen soll, aber medium ist und für manchen Esser schon verdorben, weil es 30 Sekunden zu lang über dem Feuer lag?

Nächste Woche koche ich Birnenmarmelade. Ohne die komme ich nicht über den Winter. Damit sie so wird, wie ich mir die Marmelade vorstelle, dürfen die Birnen nicht zu hart und nicht zu weich sein. Im Laden habe ich sie so noch nie bekommen. Inzwischen kaufe ich am liebsten die harten Früchte und lasse sie drei bis vier Tage liegen. Am besten aber wird die Marmelade, wenn ich die Birnen während des Reifens jeden Tag gekostet habe.

Jörn Kabisch schreibt als Der Koch für den Freitag regelmäßig über Küchen- und Esskultur

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Geschrieben von

Jörn Kabisch

Stellvertretender Chefredakteur des Freitag von 2008 - 2012 und Kolumnist bis 2022, seitdem Wirt im Gasthaus zum Schwan in Castell

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