Einmal Kaiserschmarrn à la Jacques Derrida

Der Koch Die Postmoderne hält Einzug in deutsche Speisekarten, doch was an den Gerichten „dekonstruiert“ wird, entpuppt sich bisweilen als Schmarrn
Ausgabe 09/2018
Schon im Ursprung die totale Dekonstruktion: Labskaus
Schon im Ursprung die totale Dekonstruktion: Labskaus

Foto: Arnulf Hettrich/Imago

Hat die Postmoderne nun auch die Restaurantwelt erreicht? Jedenfalls die Speisekarten! Die werden gerade inflationär um ein rätselhaftes Wort erweitert, nämlich um den Begriff „dekonstruiert“. Wichtig ist dabei, auch gleich noch die Grammatik aufzulösen. In den Menüs sind mir in der jüngsten Zeit Kombinationen wie „New York Cheesecake, dekonstruiert“, „Labskaus, dekonstruiert“ oder sogar „Gurkensalat, dekonstruiert“ begegnet.

Es erinnerte mich sofort an das zeitweilige Faible unter Journalisten, klingende englische Attribute wie „revisited“ oder „reloaded“ in ihre Überschriften zu bringen, die damit aber nicht unbedingt mehr Aussage bekamen. Und ich wette, in diesem Jahr werden wir noch mehrmals die Zeile „Karl Marx revisited“ lesen. 2018 ist sein 150. Geburtsjahr. Ich erwarte von Restaurants wirklich als Allerletztes, dass dort ein Feingefühl für Sprache existiert. Aber ich beobachte mit Sorge, welch große Fragezeichen dort Gästen immer wieder vorgesetzt werden, vor allem, wenn Bedienungen auch nicht sagen können, was nun mit der Dekonstruktion gemeint ist.

Es ist leider in vielen Fällen ein nachlässig verwaltetes Erbe der Molekularküche. Ihr größter Experimentator, Ferran Adrià, zerlegte in seinem Restaurant El Bulli in Spanien alles, was ihm in die Finger kam, um es anschließend neu zusammenzusetzen. Er pumpte Tomaten auf, bis sie platzten, und verarbeitete sie zu Schaum. Er entwickelte Ravioli, die sich selbst dekonstruierten, weil sie einfach auf der Zunge schmolzen. Respekt vor den Produkten der Natur hatte er kaum. Was soll denn an einer Gewächshaustomate natürlich sein, fragte er provokativ. Adrià und ein ganzes Heer von Schülern waren tatsächlich Postmoderne. Sie hinterfragten analytisch und radikal die allgemeine Auffassung, wie etwas zu munden hat, und hielten dem guten Geschmack den Spiegel vor. Das Prinzip Rekonstruktion war dabei genauso wichtig wie Dekonstruktion.

Wie lächerlich eigentlich, wenn man dagegen einen zerlegten Käsekuchen auf dem Teller serviert bekommt, also gebackene Teigkrümel auf einem Schlag süß angemachten Frischkäse und daneben noch etwas Kirschkompott. Schmeckt, ist aber – auf gut Bayerisch – doch nur ein Schmarrn, und das meine ich nicht negativ. Ich liebe Kaiserschmarrn. Und ich würde auf Speisekarten einfach lieber „Käsekuchenschmarrn“ lesen als „Palatschinken, dekonstruiert“, als den man Kaiserschmarrn schließlich auch bezeichnen könnte.

Die Sprachkritik ist mir wichtig, weil mich ernst gemeinte Analyse sehr interessiert. Immer mehr, wenn es sich um Gerichte aus dem deutschen Kochbuch handelt. Der norddeutsche Labskaus ist so ein Beispiel, ein Gericht, das noch immer im verrufensten Winkel der Rezeptekammer sitzt. Einst wurde er aus faserigem Corned Beef, Matjes, Kartoffeln und Rote Bete zu ungenießbarem Matrosenfutter durch den Fleischwolf gedreht und mit Spiegelei serviert. Das ist eigentlich im Ursprung schon totale Dekonstruktion.

Was aber macht das Gericht aus? Erdiges Gemüse, atlantische Salzigkeit und mürbes Rindfleisch. Wie passt das zusammen? Vielleicht eine noch rosige Scheibe Tafelspitz, dazu ein Klecks hellgelber Sauce, für die Matjesheringe und Kartoffeln zusammen püriert wurden. Ein paar Viertel gebackene Rote Bete kommen auch auf den Teller. Klingt ziemlich köstlich. Würde ich sofort bestellen. Auf der Speisekarte sollte aber stehen: „Labskaus, rekonstruiert“.

Jörn Kabisch schreibt als Der Koch für den Freitag regelmäßig über Küchen- und Esskultur

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Geschrieben von

Jörn Kabisch

Stellvertretender Chefredakteur des Freitag von 2008 - 2012 und Kolumnist bis 2022, seitdem Wirt im Gasthaus zum Schwan in Castell

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