Am Nebentisch meldet sich ein Handy mit "Smoke On The Water". "Oh, diese 68er", entfährt Harry Knittel ein entrüsteter Stoßseufzer. Er sitzt im Hessen-Block: Vier lange Tische in der Halle Münsterland, die mit einem Wimpel für einen der größten Landesverbände von Bündnis 90 / Die Grünen markiert sind. Eine Ecke haben sich die Jungen vom Kreisverband Frankfurt geschnappt, und in ihren Gesprächen geht es immer ein wenig gegen die Alten. An den Nebentischen werden die Tupper-Dosen mit Obst aufgemacht, hier liegen aufgerissene Haribo-Tüten auf Antragsstößen, die den Tisch bereits überwuchern. Goldbären, um sich die Atomdebatte appetitlich zu machen, die gleich beginnen soll - ein Abendessen auf den Gängen fällt heute auf dem Parteitag aus.
Harry weiß noch nicht, ob er zustimmen will. Wohl als Einziger unter den jungen Delegierten. "Ja, ich bin hier der Linke", sagt er nicht nur kokett und schildert seine erste Reaktion auf den Atomkonsens: "Ich habe gedacht: Irgendjemand verkauft hier jemanden für doof. Das kann man doch nicht Ausstieg nennen." Aber Harry will die Debatte abwarten und besonders die Rede von Jürgen Trittin zur Eröffnung. "Jürgen soll ehrlich sein. Wir brauchen hier keinen kosmetischen Kompromiss, sondern einen echten; und dazu gehört, dass die Fraktion sagt: Wir kämpfen weiter, wir arbeiten an einem echten Ausstieg." In Karlsruhe hätte Trittin das geschafft, "da gab es wirklich eine Aufbruchsstimmung".
Zwanzig Minuten später ist der Delegierte enttäuscht. Der Umweltminister hat besonders betont, es werde nicht nachgebessert, und zitiert notorisch die positiven Reaktionen aus dem Ausland. Sogar die New York Times habe endlich von den Grünen Notiz genommen. "Vielleicht fühlt er sich schon zu sicher", sagt Knittel über die Rede, die wenig Reaktionen im Publikum hervorgerufen hat. Delegierte verlassen den Saal, und Gespräche werden fortgesetzt. Harry bleibt diszipliniert bis zum Ende, obwohl er sagt: "Hier kippt nichts mehr." Zum Abschluss der Debatte muss Jürgen Trittin noch einmal ans Rednerpult - mit Werner Schulz hatte niemand mehr gerechnet: Der Abgeordnete aus Sachsen bezeichnete den Konsens als "rhetorischen Bruchreaktor" und bekam stehenden Applaus. Aber nicht Trittin, sondern ein Probelauf vor der eigentlichen Abstimmung zerstört die aufflackernde Opposition.
Eine Bulldogge bewacht die Tagesordnung
Nach der Abstimmung, die mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit ausgeht, zerrt die Sprecherin des Kreisverbands, Manuela Rottmann, ihren Delegierten zu Hans-Josef Fell. Der Erfinder des Gesetzes für Erneuerbare Energien setzt Knittel lange auseinander, dass es sich eben doch um den Ausstieg handele. In anderen Ländern - etwa den USA - würden inzwischen die Betriebsgenehmigungen schon auf über 40 bis zu 60 Jahren verlängert, erläutert der Bundestagsabgeordnete beispielsweise, deswegen sei nicht nur von Auslaufen die Rede. Ganz überzeugt ist Knittel jedoch nicht, als zu den anderen Frankfurtern zurückkehrt. "Vom Kopf her bin ich dafür, mit dem Herz aber dagegen", sagt er.
Das war auch schon so vor einem Jahr während der Angriffe auf Jugoslawien. Seine Kritik an dem Kriegskurs habe ihn wahrscheinlich um den Sprecherposten bei den Wahlen im Frühjahr gebracht, vermutet Harry. "Kosovo hät uns n'bissi was 'kostet", fällt der 35-Jährige ins Hessische. Auch in Frankfurt, der Realo-Hochburg und dem Heimatverband von Joschka Fischer, gab es eine Austrittswelle, fast ein Drittel der Mitglieder verließ die Partei, zirka 570 zählt der Kreisverband heute. Knittel, sonst Jurist in Wirtschaftsfragen, ist Beisitzer im Vorstand geworden. Seit viereinhalb Jahren gehört er den Grünen an: "Ich saß vor dem Fernseher und sagte mir auf einmal: So kann das nicht weitergehen", schildert er seinen Entschluss, in die Politik zu gehen. Und dann hätte es eben nur eine Partei für ihn gegeben, die Grünen. Er erinnert sich an Schulzeiten, als er und Mitschüler das Gymnasium zur atomwaffenfreien Zone erklärt hatten. An Austritt habe er nie gedacht - Harry will weiter für seine Positionen in der Partei kämpfen. Obwohl er sieht, dass sich wenige bemühen, die Linken in der Partei zu halten. Die haben sich an diesen zwei Tagen auf ihre Spezialfelder verlegt und ihre Reden mit viel Wissen und intellektueller Rhetorik angereichert, spät Abends während der Bundeswehr-Debatte oder während der Auszählpausen, die die meisten Delegierten nutzen, um sich die Füße zu vertreten. Manche dieser Redner beklagen die Parteitagsregie. Aber Reinhard Bütikofer, der politische Geschäftsführer, säße schon bei der Vorbereitung der Parteitage "wie eine Bulldogge" auf der Tagesordnung, heißt es am Tisch. Und Harry sagt: "Die Grabenkämpfe sind mit diesem Parteitag endgültig vorbei."
In ein paar Stunden wird Marieluise Beck am Rednerpult einen ähnlichen Satz über die sonst so gewohnten Flügelauseinandersetzungen sagen, und die Delegierten in frenetischen Beifall ausbrechen, wahrscheinlich den längsten auf diesem Parteitag. Noch halten an diesem Morgen des zweiten Tages die Bewerber für den Parteivorstand, Renate Künast und Fritz Kuhn, ihre Vorstellungsreden. Doch ihre Wahl gilt als sicher, und deswegen beschäftigen sich Harry und die anderen jungen Frankfurter mit anderen Fragen, z. B. dem Kommunalwahlkampf, der im Frühjahr ansteht, aber auch mit den Grünen an sich.
Ein Entertainer zwinkert "Hey, Joe"
Das Realo-Treffen am Vorabend im Hotel Kolping habe nur ein Thema gekannt, wird berichtet: Ob Rezzo Schlauch in den Parteirat gewählt werde, nachdem der Fraktionschef mit seiner Rede in der Verkehrsdebatte bei den Delegierten gar keinen Punkt gemacht habe. Harry ärgert sich. Es gebe Delegierte, die zu den Parteitagen überhaupt nur für diese Realo-Treffen fahren würden, erzählt er und schnappt sich dann einen Satz, den Fritz Kuhn - bei der Verkehrspolitik angelangt - in diesem Moment ins Mikrophon schmettert: "Wir müssen die rechte Spur als subventioniertes Warenlager der EU abschaffen." "Wenn das nicht Kuhn, sondern Ströbele gesagt hätte", glaubt Harry, "hätte doch gerade die Hälfte der Delegierten den Saal verlassen." Das Sammelbecken, das die Grünen einmal waren, sei die Partei noch immer, an "innerparteilicher Verschmelzung" habe niemand Interesse gehabt. Und Harry stellt sich vor, wie lebendig wäre es, wenn die Flügel unberechenbarer würden und auf einmal Positionen der anderen Seite vertreten. Weil das Wort schon in aller Munde ist, sagt er: "Das wäre ein echter Aufbruch, wenn die Linken und Rechten über ihren eigenen Schatten springen." Bessere "Performance" ist sein Stichwort, es fällt oft auf diesem Parteitag, bleibt doch nicht mehr als ein Schlagwort, bei Fritz Kuhn, dem Kommunikationswissenschaftler, heißt es einfach "Vermarktung". Wer ein bisschen Begriffsforschung betreibt, entdeckt, dass Performance nicht einfach eine gelungene Aufführung, sondern eine gute Ausführung heißt. Es geht auf das altfranzösische "parfournir" zurück - "gründlich ausstatten" -, und meint mehr die Vollendung eines Prozesses. Oben auf dem Podium sieht das so aus: Die Minister und Vorstände schenken dem Parteitag breite Lächeln, viele Umarmungen, und wie ein amerikanischer Entertainer zeigt Trittin auch einmal mit dem Finger auf jemanden in der klatschenden Menge, zwinkert ihm ein "Hey, Joe" zu. Es hat etwas von den ersten Harald-Schmidt-Shows, als der einen staksigen Letterman gab.
Für Harry wäre es vielleicht wieder Zeit, "Oh, diese 68er" zu stöhnen. Er hat über zwei Jahre Mitgliederwerbung gemacht - der Jurist erzählt davon wie von einem Job. Für die Jugend sei die Partei nicht mehr eine Frage von links und rechts. Mehr als ein Drittel der Wähler zwischen 20 und 30 Jahren seien heute Wechselwähler, zitiert Harry eine Umfrage. Er sieht das als Herausforderung. "Ich glaube, dass die Jugendlichen heute von Politikern einen ganz starken Professionalismus erwarten." So erklärt sich der Delegierte auch den Erfolg von Roland Koch in Hessen - es sei ein Fehler, alles nur auf die Unterschriftenkampagne gegen den Doppelpass zu schieben.
"Wahlparteitage sind doch was Wunderbares", sagt eine andere Delegierte spöttisch am Tisch, "die vielen Vorstellungsreden, die Spannung, wer in den Parteivorstand kommt. Nicht diese langweiligen Programmparteitage." Und die Delegierten auf der Grünen BDK in Münster machen sich das Vergnügen und wählen Rezzo Schlauch erst beim dritten Wahlgang in den Parteirat. Ein Denkzettel, wird es in den Zeitungen heißen. Der Initiativantrag, den auch ein paar Frankfurter unterzeichnet haben, um Schwung in den Parteitag zu bringen, bleibt ein kleiner Lacher an den Tischen. Der DFB solle bei der Trainersuche für die Nationalmannschaft aus Gleichstellungsgründen auch Frauen berücksichtigen, heißt es darauf.
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