Ich bin ein Roter unter Roten", begrüßt Xokonoschtletl die Delegierten, als der Parteitag endlich sich selbst überlassen ist am Samstagmittag, nach der tränenerstickten Erklärung Sylvia-Yvonne Kaufmanns, nach der UNO-Debatte. Und der Azteke erklärt den Genossen, seinen "Brüdern und Schwestern", warum sie das Klatschen lassen sollten. Die Handflächen aufeinander zu schlagen, heiße bei ihm zu Hause, die guten Geister zu vertreiben. Er zeigt, wie Azteken Beifall bekunden: Sie wedeln mit den Händen. Also wedelt der Parteitag: die alten Herren in weiß gestärkten Hemden aus Sachsen rechts hinten im Saal genauso wie links vorne die buntscheckigen Jungen aus Niedersachsen. Die Gesichter entspannen sich, für eine einsame Minute durchdringt Heiterkeit die fensterlose "Halle Münsterland". Der gute Geist aber hat die PDS schon verlassen.
Gregor Gysi materialisiert sich zwar von Zeit zu Zeit auf seinem Stuhl zwischen Christa Luft und Lothar Bisky, zum Beispiel als der Parteichef in seiner Eröffnungsrede bekannt gibt, dass er für den Vorsitz nicht mehr zur Verfügung steht, und auch, während Kaufmann in der friedenspolitischen Debatte in ihrer flackernden Rede gegen den Antrag des Vorstands wettert und klar wird: Gysi muss jetzt selbst ans Mikrophon, wenn er die Abstimmungsniederlage noch aufhalten will. Doch der Fraktionsvorsitzende steht nicht auf, erst ein wenig später - aber nur, um den Saal zu verlassen. Während der weiteren Debatte ist sein Stuhl in der ersten Reihe verwaist. Er hat das Wort nicht ergriffen, obwohl Gysi die Politikfähigkeit der PDS an der kleinen Nuance zwischen bedingungslosem oder vorbehaltsschwerem Nein zu friedenserzwingenden Militäreinsätzen nach Kapitel VII der UNO-Charta fest gemacht hatte. Der Bundesvorstand ist ihm und der Fraktion mit einem gemeinsamen Antrag beigesprungen. Gemeinsam erleiden sie jetzt eine Niederlage, die noch lange nachklingen wird.
Die Debatte hätte von Beginn an eine Eigendynamik bekommen, die nicht mehr aufzuhalten gewesen sei, rechtfertigt sich ein für seinen sicheren Instinkt gefürchteter Politiker nach seiner Abschiedsrede am Sonntag vor Journalisten. Gysi verweist auf den Brief, den er an die 491 Delegierten gerichtet hatte, bevor er sich auf dem Höhepunkt der Debatte zunächst nach Asien abflog. "Auf dem Parteitag selbst will ich mich zu den hier behandelten Themen nicht äußern, sondern auf andere Themen eingehen", schrieb er darin und verbat sich ein "Politikverbot", doch mit diesem Maulkorb erteilte er sich gleichzeitig selbst eines. Die Auseinandersetzung sollte eine Probe auf Reformfähigkeit, ein Vertrauensbeweis werden.
Dass Gysi das Wort nicht mehr ergreifen könnte, hatte niemand geglaubt, wahrscheinlich Gysi selbst nicht. Viele Genossen reiben sich an diesem Wochenende die Augen. Die Auswirkungen ihres Votums dämmern ihnen nur langsam. Während der Bundesvorstand hinter verschlossenen Türen über die Konsequenzen der Abfuhr streitet und an kollektiven Rücktritt denkt, stehen die Delegierten auf den Gängen in Gruppen zusammen. Die größte Traube hängt an Helmut Holter, dem PDS-Landesvorsitzenden in Mecklenburg-Vorpommern. Er will sich gar nicht vorstellen, wie die Abstimmung in der Öffentlichkeit dargestellt werden wird. Zornig fallen ihm junge Genossen ins Wort. "Wir haben uns doch nur zwischen Anti-Militarismus und Pazifismus entschieden", sagt einer. "Wir müssen mit beiden Beinen im Leben stehen", hatte Holter noch am Vortag gesagt, jetzt schüttelt er nur noch sprachlos den Kopf.
Am Sonntagmorgen hat Lothar Bisky die Fassung endgültig verloren. Er muss derjenige aus dem Parteivorstand gewesen sein, der Gysi am verzweifeltsten gedrängt hat, die Bekanntgabe zu verschieben, nicht erneut als Fraktionsvorsitzender zu kandidieren. Weil er mit der Eröffnungsrede auch seinen eigenen Rückzug als Parteichef ankündigte, hat der "Integrations-Opa" dem Freund die Möglichkeit genommen, selbst am Freitag zu reden. Der Vorstand hätte sich Chancen ausgerechnet, mit der Verschiebung noch etwas zu erreichen, bestätigte Gysi später. Doch Sonntagmorgen hat Bisky das Unvermeidliche anerkannt.
"Wir müssen wenigstens business as usual machen", sagt Diether Dehm während der Statutendebatte. So wie diese Debatte hatten sich viele Leute aus dem Karl-Liebknecht-Haus den Münsteraner Parteitag ausgemalt: Die Argumente werden ausgetauscht, die Abstimmungen sind flott. Die Delegierten haben eben den Vorschlag auf Trennung von Amt und Mandat verworfen, als Gysi von Kameras begleitet wieder den Saal betritt. In seiner Abschiedsrede muss der Fraktionschef erst ein zweites Mal darauf hinweisen, dass dies seine letzte Rede auf einem Parteitag ist, erst dann scheinen die Genossen zu begreifen. Es gibt mehr Tränen als am Vortag bei der Kaufmann-Rede.
Wenig Rührung nur an den linken Tischen, wo die Delegierten aus Bremen und Hamburg sitzen und ihre Plätze in den letzten zweieinhalb Tagen kaum verlassen haben. Kristian Glaser und Kirsten Radüge hatten "einen historischen Parteitag" angekündigt. Nach der Rede Gysis wird aus ihren Reihen noch nachgekartet, eine Aussprache gefordert, Angela Marquardt brüllt quer über die Reihen: "Jetzt haltet doch endlich mal die Klappe", um die West-Genossen still zu kriegen. In diesem Moment ist die Brisanz der Mischung, die sich Gysi und Bisky mit der Westausdehnung eingehandelt haben, wohl am meisten zu spüren. Die Go-West-Kampagne hat zwar zu einer Öffnung der Partei geführt, aber wohin? Der Parteitag ist in den entscheidenden Debatten von einem Sperrfeuer aus Nachfragen und Geschäftsordnungsanträgen eingedeckt worden, von Leuten, die sich antiautoritär gebärden und autoritär argumentieren, noch selbst im Triumph dem Unterlegenen keine Achtung zollen, auch wenn Gysi nicht mehr gekämpft hat.
Bevor der Parteitag auseinandergeht, fleht Bisky die Delegierten noch an, nicht mit "Hiobsbotschaften" heimzukehren: "Wir müssen Vertrauen wagen." Aber wie? Die Bürgen für Vertrauen waren schließlich Bisky und Gysi. Wer soll sie ersetzen? Wer kann es? Lothar Bisky trotzig: "Wir werden Gysi noch lange haben." Als er das behauptet, zeigt der sich endlich dort, wo man ihn schon das ganze Wochenende vermuten musste: auf der Galerie.
Neben ihm bereiten die Journalisten ihre Kommentare vor. Mit seinem Satz, er habe mit der Einführung der PDS in die bundesrepublikanische Gesellschaft seine "historische Aufgabe" vollbracht, hat Gysi eine Steilvorlage geliefert. Und vor der PDS ohne Gysi muss man keine Angst mehr haben. Im ZDF scheut sich Thomas Bellut später nicht zu sagen, "Bisky und Gysi kommt ein großes Verdienst für die deutsche Einheit zu". Nur tote Indianer sind gute Indianer, sagt der weiße Mann.
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