Wann haben Sie das letzte Mal fünf Stunden im Wirtshaus gehockt? Ehrliche Frage. Ich habe sie vor Kurzem auch gestellt bekommen und musste länger überlegen. Was natürlich an der Pandemie lag. Es ist eine ganze Weile her, sicher mehrere Jahre, dass ich mich so lange in einem Lokal aufgehalten habe, dass ich den Begriff „Hocken“ verwenden würde. In den vorigen Wochen war ich meist in Restaurants, auf Reservierung, und habe Zweistundenslots zugewiesen bekommen, entweder ab 18 oder ab 20 Uhr. Mit der Berliner Gastronomie ist es inzwischen schon so wie bei den Museen oder Schwimmbädern: Man kauft Zeitfenster.
Dem Wirtshaus hängt der Ruf an, spießig zu sein und auf verschlossene Weise gemütlich. Einige weinen darum diesem gastronomischen Genre keine Träne nach, es ist seit Jahren am Aussterben. Aber man kann das durchaus anders sehen, wie der Autor des Buches Das Gasthaus. Ein Heimatort (Insel-Verlag, 136 S., 14 Euro). Nämlich tolerant, ein Schmelztiegel der Kultur und eine Schule des Geschmacks. Erwin Seitz beschäftigt sich schon seit Jahren erfrischend mit der Geschichte der Gastlichkeit in Deutschland. Er erzählt, welches Weltniveau das Wirtshaus einmal hatte, sieht man von der billigen Schnitzelkultur der vergangenen Jahrzehnte einmal ab.
Seitz geht ein paar Jahrhunderte zurück, legt dann aber Wesensmerkmale des Gasthauses frei, die sich bis heute gehalten haben: die Wandbank, die Holzvertäfelung, der Kachelofen. Vor allem die Bank und die großen Tische begründen seiner Ansicht nach den sozialen Moment. Und dazu gehört, dass das Wirtshaus ein Ort zum Hocken ist, oder anders: ein Wohnzimmer, das sich nicht in den eigenen vier Wänden befindet.
Mir fallen gerade einige Gründe ein, warum man so eine Einrichtung nicht hoch genug schätzen kann. Ganz aktuell, wenn ich mir die Menschen ansehe, denen im Westen die Häuser mitsamt ihren Wohnzimmern weggeschwemmt worden sind. Sie brauchen dringend andere Wärmestuben. Und dann ist es noch gar nicht so lange her, dass einen der Lockdown an die eigene Wohnung fesselte. Und ich deswegen heute auch mit Halbstundenslots zufrieden wäre – noch.
Seitz öffnet die Augen dafür, dass Gemütlichkeit im Wirtshaus sozial verankert ist. Es geht nicht so sehr ums Essen oder Trinken, es geht ums Sitzen, an Tischen, die zu groß für die eigene Gesellschaft sind und deshalb neue Zusammenhänge herstellen. Eigentlich das Gegenteil zum Stammtisch. Ein Begegnungsort, sogar ein Freiheitsort. In der Geschichte, weist er nach, ist keine Lokalität so niedrigschwellig, so blind gegenüber dem sozialen Ansehen ihrer Gäste. Alle sind willkommen. Seitz beobachtet denn auch einen Trend hin zum Neo-Wirtshaus.
Apropos Freiheitsort: In Berlin wie auch in vielen anderen Städten ist seit Jahren die Ausweitung der gastronomischen Zone zu erleben, auch jetzt in der Ruhephase der Pandemie. Viele Parks ächzen nachts unter dem Andrang der Feiernden, und auch die Anwohner. Es gibt kaum noch andere Orte, an denen sich Menschen zwanglos treffen können, ohne viel Geld auszugeben, als die öffentlichen Grüns. Die Wiese ist die neue Wandbank, der Parkbaum der Kachelofen. Auch das ist die Folge davon, dass die Räume in der Stadt eng und teuer werden, nicht nur der Wohnraum. Der Imbiss wird gerade neu erfunden, mit immer besserem Essen. Diese Gastronomie braucht kaum Platz, kein Gast soll hier länger verweilen. Das entspricht der Logik steigender Mietpreise. In Berlin wird im September eine Volksabstimmung über die Vergesellschaftung der und des Deutschen Wohnens stattfinden. Ich frage mich: Sollte es die nicht auch fürs Deutsche Hocken geben?
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