Können auch Rezepte verderben?

Der Koch Der Koch blättert sich in einem Antiquariat durch alte Rezepte und stößt auf allerlei Ausgefallenes – etwa auf eine Anleitung, wie man Bärentatzen am offenen Feuer röstet

Ein altes Biedermeier-Sofa ist mir in den letzten Monaten zur regelmäßigen Leseecke geworden. Es ist ein Sofa, wie man es von Loriot kennt und steht in einem Souterrain-Laden namens "Bibliotheca Culinaria". Bis unter die Decke ist er vollgepackt mit alten Kochbüchern und kulinarischer Literatur. Es stapelt sich um und manchmal sogar auf dem Sofa. Noch schlimmer: Das Kochbuch-Antiquariat liegt direkt auf meinem Nachhauseweg. Da stapelt sich auch einiges neben meinem eigenen Sofa.

Was will man mit alten Kochbüchern? Welchen Nutzen hat ein Rezept aus den siebziger Jahren, das nicht von Spaghetti Bolognese spricht, sondern von "Pasta schutta" und sich spart, die Hackfleischsoße auch nur ansatzweise zu schmoren? Die Abbildung daneben macht ebenfalls alles andere als Appetit, die Farben sind vergilbt und ich habe immer den Eindruck, auch auf einem Foto kann Essen verderben. Praktische Hilfen sind die alten Kladden nur selten. Trotzdem: Das Blättern macht Spaß. Es ist wie sich mit alten Familienalben zu befassen, auf denen Verwandte unfassbar bunte Pullover tragen und viel zu große Brillengestelle.

Bärentatzen am offenen Feuer

In dieser Hinsicht hat der Inhaber der Bibliotheca, Swen Kernemann-Mohr, immer ein paar Leckerbissen zu bieten – etwa dieses Rezept, "Bärentatzen, am offenen Feuer geröstet, nach Pamir Tadshiki". Der Verfasser schreibt:

"Nachdem man die vier Tatzen am ersten Fußgelenk von den Hachsen getrennt hat, löst man die obere Haut, soweit der Haarbewuchs geht, an den Seiten und vorn am Krallenansatz vollkommen ab. Die Laufseite der Tatze wird vorsichtig gebrüht, um die zähe Hornhaut über dem Ballen zu entfernen. Nun werden die Krallen durch Trennung der letzten Zehengelenke herausgeschnitten. Mit einem kräftigen Messer werden die Tatzen von allen Seiten wahllos eingestochen. Unter leichtem Druck werden die Tatzen 14 Tage in eine Marinade aus folgenden Zutaten eingelegt: 4 mittlere Dolden der Pastinakenstaude, 6-8 Eiskrautblätter, 10 Salbeiblätter und 10 Gramm Dostsamen werden mit 350 ccm 80 Grad heißen Wasser überbrüht. Nach dem Erkalten fügt man dem Auszug noch 10 g Pfefferkörner, 10 g Piment, 10 g Wacholderbeeren (alles im Mörser grob zerstoßen), 50 g Bienenhonig, 80 ccm Cognac, 80 ccm Rotwein und 80 ccm Öl hinzu.

Die Tatzen werden nach dem Marinieren abgetrocknet, gesalzen und am offenen Feuer unter öfterem Bestreichen mit Bärenfett geröstet."

Ich dachte zuerst, dieses Rezept stamme aus einem Karl-May-Band. Ich erinnerte mich an Old Shatterhand und seinen Bärentöter, und das in den Winnetou-Büchern immer wieder mal davon die Rede war, welche Delikatesse Grizzly-Tatzen seien.

Aber so detailversessen war der Radebeuler Fabulierer dann doch nicht. Das Rezept stammt aus den sechziger Jahren, geschrieben hat es Werner Fischer, ein Westberliner Gastronom, dessen Restaurant Ritz zur damaligen Zeit sogar einen Michelin-Stern hielt. Manche halten ihn für einen Pionier der deutschen Küche. In den Jahren, in denen die Nouvelle Cuisine aus Frankreich über die Grenze schwappte und die Experimentierfreude von Köchen wie Witzigmann Co anheizte, verschrieb Fischer sich dem Exotischen. Das Bekannteste auf seiner Karte war wahrscheinlich Schildkrötensuppe, daneben bot er geröstetes Gürteltier oder Kamel-Buletten an.

Nicht mal mehr exotisch

Heute wirken solche Gerichte nicht mal mehr exotisch, zum Glück. Essen mag das niemand mehr. Sie zeugen von der kulinarischen Einfalt einer Zeit, die sich von der deutschen Küche so weit wie möglich abheben wollte. Schließlich brachen eben die 68er an.

Mal sehen, was weitere Kostproben aus anderen Jahren so bringen.

Der digitale Freitag

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Geschrieben von

Jörn Kabisch

Stellvertretender Chefredakteur des Freitag von 2008 - 2012 und Kolumnist bis 2022, seitdem Wirt im Gasthaus zum Schwan in Castell

Jörn Kabisch

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