Es grünt. Ein bisschen wenigstens. Die ersten Schneeglöckchen zeigen sich, aber ich habe kein Auge für sie. Ich halluziniere Bärlauch. Nicht mehr lang, dann liegen grüne, mild nach Zwiebel duftende Teppiche in den Wäldern um Berlin. Dann ist Frühling. Ich werde sammeln gehen und weiß schon, ich werde wieder viel zu viel mitnehmen.
Der Bärlauch ist eine Pionierpflanze, im botanischen Sinne, vor allem aber im kulinarischen Kontext. Kaum jemand kann sich einen Frühling ohne Spargel vorstellen, und ebenso die Zeit davor ohne Bärlauch – als Pesto, Risotto oder Knödel. Gleichzeitig hat die Waldpflanze den Blick für das geöffnet, was sonst noch so unter den Bäumen wächst und verzehrbar ist, jenseits von Pilzen und Wildbret.
Es ist überraschend viel. Das junge Laub des Ahorns kann man wie Weinblätter verwenden und darin Reis einrollen oder Fisch dämpfen. Aus Ahornblüten lässt sich Sirup machen. Ebenso natürlich aus Tannen- und Fichtensprossen. Die junge Triebe schmecken leicht zitronig und sind essbar. Und, und, und: Jährlich kommen neue Kochbücher zum Thema raus, jährlich entdecken Köche, die sich regional und saisonal orientieren, vor allem den Wald als Nahrungsraum. Reh und Wildschwein werden modern interpretiert. Krause Glucke, schwarze Trompete oder Parasol (alles Pilze) kommen auf die Speisekarten. Im Bioladen findet man Birkenwasser und Birkenzucker. Und Wildspargel, Löwenzahn und Bucheckern erobern im Gefolge des Bärlauchs die Küchen.
Eigentlich ist es geradezu widersinnig, dass der Wald gerade jetzt als Vorratskammer in Mode kommt. Der Wald ist Krise. Ein wichtiger CO₂-Speicher, der vertrocknet, der immer wehrloser wird, der brennt. Das ganze Ökosystem ist aus den Fugen. Es steht so schlimm, dass Bund und Länder 1,5 Milliarden Euro für Wiederaufforstung bereitgestellt haben. Und junge Klimaschützer organisieren sofort bundesweit, wenn Bäume Tagebauen, Autobahnen und inzwischen auch Fabriken weichen sollen.
Aber von diesem Wald zu essen, das soll okay sein? Wie passt das zusammen? Man könnte nun einiges über die Deutschen, die Romantik und den Wald schreiben. Interessant ist, im 19. Jahrhundert begann die Geschichte vom Wald, der bis dahin „Wildnis“ und „Wirtschaftsraum“ war, als einem Kulturraum. Dass man sich daraus seit Jahrhunderten für die Küche bediente, wurde mit der Industrialisierung der Landwirtschaft uninteressanter. Die bürgerliche Küche, die in dem Jahrhundert entstand, ist eine extrem landwirtschaftliche: Sollte sich der Adel doch weiter den Schrot aus den Zähnen pulen, wenn Fasan auf den Tisch kam. Die Industrialisierung ergriff die Forstwirtschaft, an deren Ende etwa das Reh weniger als Wildbret steht, sondern als Baumschädling.
Das hat mit zu der prekären Situation geführt, in der der Wald heutzutage steckt. Es entsteht ein neuer Sehnsuchtsort, andere Arten der Aneignung werden entwickelt.
Peter Wohlleben, Deutschlands bekanntester Förster, hat uns das soziale System Wald in seinen Bestsellern erklärt. Menschen gehen zum Waldbaden, wie sie früher CDs mit Walgesängen lauschten. Der Wald ist nicht mehr gefährlich, sondern verletzlich – aber immer noch ursprünglich. Kein Kochbuch, kein Blog zum Thema Wald, die nicht darauf hinweisen: Wenn Nutztiere irgendwo artgerecht leben, dann das Wild. Und was unter Bäumen wächst, gilt als besseres Bio, vergessen wir jetzt mal Tschernobyl. Ist ja wirklich schon lange her.
Wenn der Mensch isst, dann reist er gerne in bessere Welten. Aber aus dem Wald essen, das macht ihn nicht gesund. Ich werde mich beim Bärlauchsammeln zusammenreißen müssen.
Kommentare 4
ach, mir ist der appetit abhanden gekommen...
Ach ja, die Hipster entdecken Nahrung aus dem Wald. Als gebürtigen Pfälzer sind mir Esskastanien wohl vertraut - die gab es im Herbst und Frühwinter fast täglich als Beilage statt Kartoffeln. Löwenzahnsalat war im Frühjahr auch auf dem Tisch, Bucheckern, gerödstet, zum Knabbern. Vogelmiere als Salat, und von den Schrotkugelhltigen mit Knochensplittern durchsetzten Hasen oder rebhühnern,, ja die gan es damls in den 1960 noch reichlich, die mein Opa schoss kann ich Lueder singen. Pilze sammeln, selbstverständlich. Auch heute kaufe ich noch regelmäßig von befreundeten Jägern ein Wildschwein oder ein Reh - natürlich un der Decke - aber die bestehen natürlich nicht nur aus dem "edlen" Rücken oder den Keulen - da muss man alles verwerten. Einen 45 kg Damhirsch hatte ich auch schon.
Nur für eines konnte ich mich noch nie begeistern: Das Modekraut Bärlauch !
Bärlauch wächst ausreichend (wild) im Garten. Die Teesaison beginnt mit Huflattich ... "...hüstel.."
Beides im Wald ... nicht überall ... nur an bestimmten Stellen, die man kennen muss.
Bärlauchpesto, ganz lecker - aber beim Pflücken, den Bärlauch nicht mit Maiglöckchen (hochgiftig!) verwechseln, weil das kann tragisch enden ...