Mein Kaviar sind Austern

Der Koch Willkommen zurück: Austern sind nicht mehr länger Luxus
Ausgabe 49/2014

Wann haben Sie das letzte Mal Austern gegessen? Vielleicht vergangene Weihnachten? Ich freue mich schon: In ein paar Wochen erlaube ich mir wieder ein paar davon. Ich bin an einem Esstisch aufgewachsen, auf dem eine kleine Dose Kaviar stand, wenn die Tage am dunkelsten waren. An diesem Tisch konnte man 361 Tage im Jahr vor allem trainieren, Nachschlag zu bekommen. Die Konkurrenz schneller Esser war groß. Vier Tage im Winter aber gab es Anschauungsunterricht in Sachen Genuss. Das lag an dem Kaviar, aus dem sich niemand viel machte, außer mein Vater. Und der aß ihn langsam und so sorgfältig, als hätte er die Fischeier auf dem gebutterten Graubrot abgezählt. Die kleine Dose hielt fast bis Silvester.

Mein Kaviar sind Austern. Die kommen auch aus dem Meer, es mag sie nicht jeder und es gibt sie nur an Weihnachten. Das macht sie für mich zur Delikatesse, der Geschmack ist es eher nicht. Klar, Austern schmecken, aber nicht so, wie ich mir ein luxuriöses Lebensmittel vorstelle. Dafür fehlen Eleganz, Subtilität, das Feine. Austern haben Karacho. Sie schmecken unvorstellbar stark nach Meer. Das hat aber nichts mit dem brackigen Aroma zu tun, das einem beim Schwimmen in der Adria manchmal aus Versehen in den Mund schwappt. Austern schmecken so, als wären die Weltmeere gerade frisch eingelassen worden. Als tränke man aus einer Gebirgsquelle, der Meerwasser entspringt.

Nun gibt es Austern bald im Discounter. Noch nicht in Deutschland, aber schon in Großbritannien. 6 Muscheln für umgerechnet 3,50 Euro bietet dort Lidl in der Weihnachtszeit an. Als ich das im Guardian las, bin ich kurz erschrocken, dass mein kleiner Luxus zur Allerweltsdelikatesse wird, so wie schon Hummer und Lachs. Und dann erinnerte ich mich. Und ich dachte: Willkommen zurück!

Denn diese Muschel steht noch gar nicht so lang für Luxus und Dekadenz. Vor mehr als 150 Jahren gehörte sie zum Arme-Leute-Essen und war Bestandteil der Imbisskultur wie heute Döner. Charles Dickens, der Schöpfer von Oliver Twist, schrieb 1836 in den Pickwick Papers: „Austern und Armut scheinen immer Hand in Hand zu gehen.“ Auf dem Londoner Fischmarkt waren Austern zur damaligen Zeit so billig, selbst Arbeiter konnten sie sich tütenweise leisten. 200 Stück gab es für einen Tageslohn. Und in New York war die Auster lang die härteste Konkurrenz des Hotdogs. Einmal bitte dieses neumodische Würstchen im Brot? Ein ganzer Teller Austern kostete das Gleiche.

Die Eignung zum Streetfood sieht man der Auster sofort an. Es ist ein Lebensmittel, das seine Verpackung und den Teller selbst mitbringt. Und je schwerer die Muschel zu öffnen ist, umso lebendiger und frischer ihr Inhalt. Schon seit der Antike wurde sie deshalb auf längere Seereisen geschickt. Eine Meeresfrucht! Bei der heute viele Angstzustände bekommen, wenn die Kühlkette nur Sekunden unterbrochen ist. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts war die Muschel ein Massenprodukt, dann brachen die Bestände auf einmal ein. Es ist dieselbe Geschichte, die sich heute mit dem Thunfisch wiederholt. Die Fischer hatten sich zu lange zu reichlich bedient, mit Grundschleppnetzen, die auch den Nachwuchs zerstörten. Aber sie lernten, die Austern zu züchten. Heute stammen rund 95 Prozent aller Austern aus Aqua-kultur. Die Muscheln sind im Vergleich zu Thunfisch und Stör, die im Aussterben begriffen sind, eine politisch ziemlich korrekte Delikatesse.

Ach, ich glaube, ich werde die Austern in ein paar Wochen mal anders probieren als sonst. Nicht mit einem Glas feinen Weißweins, sondern mit paar Scheiben gebuttertem Graubrot und einem großen Glas Stout.

Jörn Kabisch schreibt als Der Koch für den Freitag regelmäßig über Küchen- und Esskultur

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Geschrieben von

Jörn Kabisch

Stellvertretender Chefredakteur des Freitag von 2008 - 2012 und Kolumnist bis 2022, seitdem Wirt im Gasthaus zum Schwan in Castell

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