Negroni hilft bei Hitze

Erfrischung Spritz ist zum Synonym für einen Aperitif geworden. Vielleicht hat auch ein anderes Getränk eine Chance?
Ausgabe 30/2019
Woanders ist Negroni wieder in, wie hier in New York City
Woanders ist Negroni wieder in, wie hier in New York City

Foto: Craig Barritt/Getty Images für Bombay Sapphire Gin

Wenn Sie in diesem Sommer schon den einen oder anderen Spritz getrunken haben – und das haben Sie bestimmt –, dann hätte ich was für Sie. Denn der Drink aus Aperol, Weißwein und Sprudel ist inzwischen ein Synonym für Aperitif. Man bekommt ihn im kleinsten Allgäuer Bergdorf, wie ich auf einer Wanderreise gerade erleben konnte.

Früher gab es auch mal Kir, man bestellte Pastis, mancherorts noch Hugo, Sekt mit Holunder und Minze. Aber der Spritz hat alle überlebt. Vielleicht aber hat dieser andere Cocktail eine Chance: der Negroni. Böse Zungen behaupten zwar, er stehe zum Spritz in einem Verhältnis wie der Filterkaffee zum Latte macchiato. Denn die gleichnamige Fraktion bevorzugt inzwischen mehr das tröpfelnde, ganz laktosefreie Schwarz. Doch der Vergleich hinkt, weil der Negroni nicht im gleichen Maße alkoholfrei ist. Ganz im Gegenteil. Er haut ziemlich rein. Das liegt auch an seiner Geschichte. Er ist vor 100 Jahren das erste Mal gemischt worden.

Fosco Scarselli ist der Name des Barkeepers, der erstmals zu Gin, Wermut und Campari griff, den Zutaten dieses Cocktails. Es gibt wenige Fotos von ihm, sie zeigen einen scheuen, zurückhaltenden schlanken Mann, das dunkle Haar aus der Stirn gestrichen. 1919 arbeitete er im Florentiner Caffè Casoni, das noch heute existiert, aber unter dem Namen Giacosa. Scarselli war ganz das Gegenteil des lauten und derben Conte Camillo Negroni, der sich irgendwann vor ihm am Tresen aufbaute. Dieser Graf trug gern hohe Zylinder und einen mächtigen Schnurrbart, nach Jahren in den USA, wo er es als Glücksspieler und Rinderbaron zu Reichtum gebracht hatte. Ihm stand der Sinn nach was Härterem als einem Americano, der damals en vogue war, ein Cocktail aus Wermut, Campari und Soda, man könnte sagen, der damalige Spritz. Also griff der höfliche Barmann zum Gin. Und weil Negroni ein ziemlich fleißiger Trinker war und Stammgast im Casoni, schaffte es der Cocktail auf die Karte – unter dem gräflichen Namen.

Der Negroni ist vor allem bitter, fast hustensaftig – durch den Wacholder, der den Gin ausmacht, die Kaskarillarinde, die im Campari steckt, und das Wermutkraut im Süßwein. Und auch wenn die Geschichte von dem Grafen und dem Barkeeper nicht stimmen sollte, kann dieser Aperitif nur aus Italien stammen. Denn hier hat man eine spezielle Vorliebe für „bitter“. Auch der Caffè hat rassig-bitter zu bleiben, je weiter man in den Süden kommt, umso mehr. Als Digestif wird hier viel öfter als Grappa ein Gläschen Amaro getrunken, was eben einfach „bitter“ heißt. Averna, Cynar, Ramazzotti oder Fernet eben. Sogar beim Wein gilt das Prinzip: Bei Negroamaro und Amarone verlangen Weinkenner schon wegen der Namen der Trauben nach Bitternoten.

Woher diese Vorliebe kommt, da kann man nur spekulieren. Ganz bestimmt hängt sie mit der Liebe zum Essen zusammen. Eigentlich ist bitter ja kein angeborener Geschmack, man erlernt ihn. Ursprünglich diente er auf der Zunge dazu, vor giftiger oder ungenießbarer Nahrung zu warnen. Aber gleichzeitig wird auch der Speichelfluss und die Produktion von Magensäure angeregt, der Körper muss sich ja irgendwie wehren, wenn weiter oben der Spuckreflex nicht ganz funktioniert. Und das führt zu Appetit.

Ich habe Negroni schon im Juni zu schätzen gewusst, als die erste Bullenhitze übers Land strich. Je höher die Temperaturen klettern, umso bitterer darf es sein. Es gibt in diesem Sommer sicher noch mal eine Gelegenheit.

Jörn Kabisch schreibt als Der Koch für den Freitag regelmäßig über Küchen- und Esskultur

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Geschrieben von

Jörn Kabisch

Stellvertretender Chefredakteur des Freitag von 2008 - 2012 und Kolumnist bis 2022, seitdem Wirt im Gasthaus zum Schwan in Castell

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