Über einen polizeilichen reflex

KOMMENTAR Brandanschlag auf die Synagoge in Erfurt

Irgendwo in einer in Griffnähe befindlichen Schublade muss sie in den polizeilichen Amtsstuben liegen: die Liste für die Verlautbarungen mit Versatzstücken und Schlussworten, die offenbar in keiner Polizeimeldung und auf keiner Pressekonferenz fehlen dürfen. Die am vergangenen Osterwochenende aber besonders deutlich gezeigt haben, welches Unheil sie anrichten. Vielleicht gibt es die Liste auch gar nicht, so schnell und reflexartig liegen den Ordnungshütern und Staatsanwälten die Worte auf der Zunge, auch nachdem am Gründonnerstag und am Hitlergeburtstag ein Molotowcocktail an einer Mauer der Erfurter Synagoge zersplitterte. Ein rechtsextremistischer Hintergrund sei noch nicht offensichtlich, es werde in alle Richtungen ermittelt, hieß es sogleich auf der Pressekonferenz. Vielleicht seien Nachahmungstäter aus linksextremistischen Kreisen am Werk gewesen. Die ordnungsmächtige Abwiegelungstaktik verfing. Beruhigung in der um österlichen Frieden und stille Einkehr ringenden Republik. Das Eierverstecken konnte weitergehen. Warten wir erst mal ab, ob es überhaupt die Rechten waren.

Aber egal, ob von links oder rechts, ein Anschlag auf eine Synagoge ist zwar auch extremistisch, vor allem aber antisemitisch, und das auch, wenn - diese Möglichkeit stand ja über Tage im Raum - "linksextremistische Provokateure" am Werk gewesen sein sollten. Es wäre geistige Brandstiftung schlimmster Sorte gewesen. Die Täter hätten zur weiteren Verharmlosung rechtsradikaler Gewalt nur beigetragen. Das die Polizei über eine solche Möglichkeit laut nachdenkt, hat fast den gleichen Effekt. Erinnert sich noch jemand an das kleine Mädchen, das mit zerschnittenem Gesicht auf einer englischen Polizeiwache erschien und zu Protokoll gab, die hätten ihr Skins beigebracht. Später stellte sich heraus, dass sie die Rasierklinge selbst in der Hand gehabt hatte. Die Gewaltbereitschaft gegen den immer geringeren öffentlichen antifaschistischen Konsens scheint bei der Erfurter Polizei und Staatsanwaltschaft von fast ebensolcher Qualität.

Mit dem Sommer beginnt vor allem in Ostdeutschland wieder eine gespenstisch makabre Saison. Die Polizeimeldungen, die davon berichten, sind den Zeitungen kaum mehr die Zeile wert. Nach dem Herrentag, den Feuerwehr- oder Volksfesten oder auch nur nach einer lauen Sommernacht wird es wieder heißen, ein Ausländer sei von zwei oder drei kurzgeschorenen jungen Männern mit einem Kampfhund an der Seite um Zigaretten gefragt worden. Als er der Bitte nicht nachkam, sei es zur Auseinandersetzungen gekommen. Die Folge: Bisswunden, Armbrüche und Prellungen, ein Tagesaufenthalt im Krankenhaus. Und wieder wird es reflexartig heißen: Gegen die Täter werde ermittelt. Von einem ausländerfeindlichen Hintergrund werde nicht ausgegangen, sagt die Polizei wie immer. Wenn der Ausländer mit dem Tode ringt, erst dann werden wir wieder davon lesen.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Jörn Kabisch

Stellvertretender Chefredakteur des Freitag von 2008 - 2012 und Kolumnist bis 2022, seitdem Wirt im Gasthaus zum Schwan in Castell

Jörn Kabisch

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