Vom Horrorgemüse zur Lieblingsfrucht

Der Koch Die Tomate hatte lang einen schweren Stand. Über fast 200 Jahre fürchteten sich die Menschen vor ihr. Heute ist sie dagegen das beliebteste Gemüse der Welt
Ausgabe 29/2014
Vom Horrorgemüse zur Lieblingsfrucht

Illustration: Otto für der Freitag

Man meint, über viele Dinge sei alles erzählt. Zum Beispiel über die Tomate: ein Nachtschattengewächs, lateinisch Solanum lycopersicum, mit Kartoffel und Aubergine verwandt, ursprünglich in Südamerika beheimatet. Kennt man alles. Auch dass die Tomate einst Liebesapfel hieß oder Goldapfel, auf Italienisch bis heute pomodoro und in Österreich der Paradeiser.

Da ist im Namen die Verbindung zur verbotenen Frucht aus dem Garten Eden geschlagen. Man findet das öfter in der Kulturgeschichte von Obst und Gemüse. Auch Apfel, Birne, Quitte und Granatapfel, um nur einige Beispiele zu nennen, sollen Adam und Eva dem Volksglauben nach verführt haben. Ich habe das immer für einen frühzeitlichen Vermarktungstrick gehalten. Erzählt man vom Paradies, raunt man vielleicht noch von einer aphrodisischen Wirkung, ist der Absatz eines Gemüses garantiert.

Der Trick funktioniert noch immer – auf Fruchtgummiverpackungen. Mindestens bei der Tomate aber stimmt die Regel nicht. Die ursprüngliche Bezeichnung drückt keineswegs Liebe aus, so wie wir sie heute für das Gemüse haben. In Europa hatten viele Menschen über fast 200 Jahre Angst vor dem Gewächs. Die Tomate wurde aus ästhetischen Gründen angebaut, aber nicht zu kulinarischen Zwecken. Nur in Süditalien experimentierte man damit schon im 16. Jahrhundert in der Küche, hierzulande dauerte es bis zum späten 19. Jahrhundert, bis überhaupt die ersten Rezepte in Kochbüchern erschienen.

Kurioserweise stößt man auf dieses kleine Kapitel Geschichte, wenn man sich mit dem Tomatenanbau in Amerika befasst. Denn die nordeuropäischen Einwanderer nahmen die Vorbehalte nach Übersee mit und kultivierten sie dort sogar noch, wie der Kulturwissenschaftler Andrew F. Smith in The Tomato in America. Early History, Culture, and Cookery, der einzigen Monografie zum Thema, schreibt. Ursprung des Argwohns waren Geschichten von Adeligen, die an Tomaten gestorben waren. Der Grund: Der höhere Stand benutzte oft Zinnteller, und die Säure der Tomate löste das Blei darin, was zu Vergiftungen führte. Die Tomate galt ähnlich wie die Kartoffel fortan als Frucht einer giftigen Pflanze. Der eigentümliche, nicht unbedingt wohlriechende Geruch der Pflanze, der mir auch gerade in meinem Garten entgegenweht, unterstützte den Glauben noch. In den USA empfahlen Botaniker und Herbalisten deshalb, Tomaten nur anzupflanzen, um sich am Anblick der Früchte zu erfreuen und Ungeziefer fernzuhalten.

Aber es gab natürlich auch Insekten, die es auf die Pflanzen abgesehen hatten. In den USA übertrug sich die Furcht vor der Tomate auf die Raupe eines Nachtschwärmers, also eines Schmetterlings, der von Gärtnern bald Tomatenhornwurm genannt wurde. Über ihn wurden wahre Horrorgeschichten erzählt: Er sei giftig wie eine Klapperschlange und bewirke, dass die Pflanzen noch toxischer würden, schrieb etwa der berühmte US-amerikanische Naturphilosoph Ralph Waldo Emerson. Berichte von Exemplaren, lang wie eine Männerhand, die ihre Beute mit todbringendem Speichel bespritzten, nährten das Gärtnerlatein. Erst als Joseph Campbell die Tomatensuppe aus der Dose auf den Markt brachte, ließen sich die Amerikaner umstimmen. Doch glaubt man Smith, muss die Kostprobe für viele anfangs ein solches Abenteuer gewesen sein wie heute Sushi vom Kugelfisch.

Erst Ende des 19. Jahrhunderts begann sich die heutige Bezeichnung Tomate einzubürgern, abgeleitet von dem ursprünglichen aztekischen Wort xitomatl. Der exotische Begriff nahm den Menschen die Angst. Und der Siegeszug zum heute beliebtesten Gemüse der Menschheit begann.

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Geschrieben von

Jörn Kabisch

Stellvertretender Chefredakteur des Freitag von 2008 - 2012 und Kolumnist bis 2022, seitdem Wirt im Gasthaus zum Schwan in Castell

Jörn Kabisch

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