Von glatzköpfigen Krokodilen

Medientagebuch Beobachtungen aus dem Sommerloch 2001

Am Ende konnte das Sommerloch auch noch lokalisiert werden. Es liegt auf 7 Grad 51 Minuten und etwa 35 Sekunden östlicher Länge und 49 Grad 48 Minuten 46 Sekunden nördlicher Breite, aber das nur ungefähr: Um vier Straßen, zwei Kneipen und etwa 430 Seelen orten zu können, bräuchte ein Geograph noch ein paar Millisekunden zusätzlich. Also: Der Ort liegt bei Bad Kreuznach, im Pfälzischen, wie uns der Reporter der Süddeutschen aufgeklärt hat, und man vermutet richtig - hier wird Wein angebaut. Es unterscheidet sich bis auf das Ortsschild nicht von den vielen anderen Epizentren schwüler deutscher Langeweile, und hat nur den Vorzug, dass sein Name uns die schnelle Gelegenheit gibt, aus dem öden Kaff wieder zu fliehen und zu dem anderen Sommerloch zu kommen. Der Name Sommerloch stammt nämlich nicht von Sommer. Früher hieß es Sumerlachen, Sumer bedeutet: nach Süden gelegen, und eine Lache ist natürlich ein Tümpel.

Heute hat sich für solch größere Pfützen auch die Beschreibung Baggersee eingebürgert, und dabei sind wir bei dem Klassiker, mit dem seit inzwischen neun Jahren alljährlich der Juli in deutschen Gazetten eröffnet wird - dem Krokodil im Baggersee. Das Erste hieß 1992 Sammy und war ein Babyalligator. Obwohl er zu klein war, um überhaupt den Mut zu fassen, einen Menschen oder auch nur einen Frosch zu verspeisen, erfasste eine Panikwelle die Republik. »Alarm am Baggersee!« ist seitdem ein gebräuchlicher Bild-Titel, in diesem Jahr wahlweise »Alarm am Rhein!« weil eine Riesenboa dort gesichtet wurde. Was für eine Geschichte: ein Reptil, also ein Entsendling aus dem fremden Afrika, züngelnd, hinterhältig und von todbringenden Legenden besetzt, macht den deutschen Urvater Rhein unsicher. Schön schaurig! Das hat den bisherigen Sommerklassiker, nämlich Nessie, zu dem gemacht, was das Ungeheuer schon immer war, eine Blindschleiche im schottischen Hochmoor. Weniger schön ist, dass in manchen Sommern, in denen es viel Anlass gab, über Rechtsextremismus zu berichten, auch die Zahl der Exoten in deutschen Gewässern anstieg.

Ja, auch der Rechtsextremismus ist ein Sommerloch-Phänomen. Ob Mölln, Solingen, Hoyerswerda oder Düsseldorf - alle Anschläge fanden zwischen Ende Mai und Anfang September statt. Ob da die Hitze in dumpf brütenden Hirnen nur das Ihre tut, oder Journalisten warten, bis es keine andere Gelegenheit mehr gibt, über Rechtsextremismus nicht zu schreiben, war noch jedes Jahr eine tunliche Frage. Die Geschichte »Glatzen fallen inklusive Kampfhund Ausländer an« hat nicht nur in deutschen Sommern weit gespenstischere und dabei noch reale Auskleidungen erfahren als das Krokodil im Baggersee. Aber der Sommer 2001 blieb, außer ein paar Randspalten - beispielsweise einen Anschlag auf eine Sinti-Familie am Rande von Berlin, eigentümlicherweise vom großen Thema frei.

Es gab bessere Geschichten: das Outing von Klaus Wowereit, die Schwangerschaft von Steffi Graf, die angekündigte Geburt eines Hitlerklons durch eine Ufo-Sekte, zuletzt die Badelust des Rudolf Scharping. Alles gute, keine Tabus verletzenden Boulevard-Geschichten und besonders die um Scharping ganz nach dem Prinzip »Reicher alter Graf fickt seine junge Tante und wird dabei vom Hund erschossen«, wie es alte Schlachtrösser des Handwerks errötenden Journalistenschülern beibringen. Nur der Selbstmord von Hannelore Kohl erschütterte - ein bisschen - die Republik.

Sonst trat kein Minister zurück, und kein Parteichef wurde geschasst, übliche Sommerloch-Themen wie die Abschaffung der Wehrpflicht, LKW-Schlangen auf deutschen Autobahnen und Pilotenstreiks (diesmal der mallorquinischen Busfahrer) waren dafür en vogue. Es gab 2001 kein Aufhebens um die Benzinpreise, dafür aber um die Idee, die Krankenversicherung zu privatisieren und natürlich die gar so faulen Stützeempfänger, die auch dann noch in der sozialen Hängematte liegen, wenn sich der deutsche Steuerzahler im wohlverdienten Urlaub hineinlegen will.

An diesem Beispiel zeigt sich jedoch auch ein recht ausgereiftes Management dieses Sommers. Kurz vor seinem Urlaub in Italien jedenfalls kreiste Gerhard Schröder noch wie der rote Baron höchstselbst über die Stammtische und donnerte, Kinderschänder gehörten eingesperrt, »und zwar für immer«. An den Bierseideln nickte man zustimmend und erinnerte sich an die Zuwehmes der vergangenen Sommer. Gerade genug Zeit für Innenminister Schily, sich einige Wochen lang auf den Kanzlersessel zu setzen und sich in Allgegenwärtigkeit zu üben. Ob Zuwanderungsgesetz, Internationale Demonstrantenkartei oder Marianne Birthler, Schily hatte die Hand auf dem Thema. Nicht einmal der in Hitzephasen sonst so virtuose J. W. Möllemann bekam da einen großen Stich. Und dann war Bettenwechsel, Schily ging in die Toskana, und Schröder machte sich auf Sommer-Tour in den Osten.

Früher war der Begriff Sommerloch übrigens noch nicht so gebräuchlich. Es hieß eher Saure-Gurken-Zeit, und das beschrieb deutlich, was Journalisten in nachrichtenarmen Zeiten gewöhnlich machen, nämlich gut abgehangene Themen und Geschichten hervorkramen, die sonst weder aktuell noch spektakulär genug sind, um sie zu drucken. Davon ist keine Rede mehr. Sommerloch ist ein larmoyanter Begriff.

Zeitungen - für Rundfunk oder Fernsehen gilt das Gleiche - könnten ja auch zusperren oder nur den Sportteil herausgeben, in manchen Juli- und Augustwochen; es ist, wie man so schön sagt, die nachrichtenarme, nein, meist sogar die nachrichtenlose Zeit. Und das Sommerloch beziehungsweise die Berichterstattung in diesen Monaten dann die Negation der Negation. Denn wer will schon wahrhaben, dass es keine Nachrichten gibt. Journalisten am allerwenigsten.

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Geschrieben von

Jörn Kabisch

Stellvertretender Chefredakteur des Freitag von 2008 - 2012 und Kolumnist bis 2022, seitdem Wirt im Gasthaus zum Schwan in Castell

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