Warum essen wir im Kino Popcorn?

Koch oder Gärtner? Die große Depression hat den Puffmais zu dem beliebtesten Kinosnack der Welt gemacht, sagt der Koch. Und er erklärt, warum er vor allem salzigen Popcorn etwas abgewinnen kann

Es gibt drei Kategorien von Kinobesuchern: Süße, Salzige und Popcorn-Hasser. Warum ich das weiß? Zwei Jahre hinter einer Popcorn-Maschine in einem kleinen Kino in Frankfurt am Main, da wird man zum Experten für die Physiognomie des Cineasten. Machen Sie mal die Probe aufs Exempel: Gehen Sie in ein – ich benutze dieses Wort absichtlich – Filmkunsthaus und bitten Sie die Kassiererin um eine Einschätzung: „Was meinen Sie, in welchen Film will ich?“ Sie werden überrascht sein.

Ich brauchte etwa ein Jahr, um den Blick dafür zu entwickeln. Es war die Zeit, als Der mit dem Wolf tanzt wochenlang die Säle füllte. Popcorn-Kino ist aber viel mehr als Kevin Costner. Popcorn-Kino ist auch fast jede Nachmittagsvorstellung – egal welcher Film. Je höher der romantische Gehalt, um so besser für den Absatz. Menschen, die gerne die Gefühle überfließen lassen, sind meist geübt, diese mit einer Tüte Puffmais zu absorbieren.

Allgemein gilt die Faustformel: Frauen sind eher der salzige Typ, wenn sie aber süß essen, darf es gleich eine Jumbo-Tüte sein. Männer dagegen essen immer süßes Popcorn in der mittelgroßen Tüte. Diese Regeln gelten ­übrigens nicht, wenn Sie es mit großen Gruppen zu tun haben oder gerade frisches Popcorn machen. Wenn sich der süße Duft von Kokosfett und Karamell verbreitet, gelten keine Regeln mehr. Maiskörner, die aus dem Kessel poppen und gegen die Fenster der Maschine prasseln – das ist großes Kino.

Popcorn wurde vor etwa hundert Jahren das erste Mal von fliegenden Händlern in den ­Nickelodeons verkauft. Weil eine Tüte nur ein paar Cent kostete, wurde es während der Großen Depression zum erschwinglichen Luxus für jedermann. Einige Menschen brachten es damals sogar vom Popcorn-Macher zum Millionär, etwa der spätere Hotel-Mogul Kemmons Wilson (Holiday Inn). Während des Zweiten Weltkriegs dann war Zucker in den USA rationiert, um die Truppen in Europa zu versorgen, so dass die heimische Süßwaren­industrie fast zum Erliegen kam – bis auf Popcorn. Die Amerikaner aßen 1945 dreimal so viel Popcorn wie zu Kriegsbeginn, vor allem in den Lichtspielhäusern. Parallel zum Siegeszug von Hollywood entwickelte sich Popcorn in den folgenden Jahren zum globalen Kinosnack.

Damit ist erklärt, warum wir im Kino Popcorn essen – warum wir im Kino überhaupt Appetit bekommen, ist ein weißer Fleck der Filmwissenschaften. Allein der Schweizer Vinzenz Hediger bietet ein paar Erklärungen aus der Filmpsychologie an. Danach regrediert der Zuschauer, wenn im Kinosaal das Licht ausgeht, bei Blockbustern sogar bis hin auf eine prägenitale Stufe. Die oralen Lüste ergänzen dann die audiovisuellen, die von der Leinwand ausgehen. Einfacher ausgedrückt: Wir werden zum Kleinkind, selbst Erwachsene saugen sich im Kino gern am Strohhalm oder am Hals der Bierflasche fest.

Ein Rätsel bleibt dennoch: Anfang des 20. Jahrhunderts, also zu Stummfilm-Zeiten, mag es noch angegangen sein, dass die Zuschauer mit krachendem Kauen selbst die Geräuschkulisse für den Film hergestellt haben. Trotzdem werden Snacks, deren Verzehr in empfindliche Dezibel-Bereiche führt, auch in der Tonfilm-Ära mit Freude verzehrt, neben Popcorn auch noch Chips. Das kann einen an den Rand der Weißglut führen – und zum vorzeitigen Verlassen des Films. Die Tüte Popcorn ist für mich inzwischen auch ein Akt der Selbstverteidigung. Es beruhigt und übertönt die Nebengeräusche.

Ich entspreche übrigens genau meiner Typologie: Ich mag süßes Popcorn und verehre salzige Popcorn-Esserinnen. Warum: Machen Sie mal eine verfettete Popcorn-Maschine mit verkrustetem Zucker sauber. Das wünscht niemand seinem ärgsten Feind.

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Geschrieben von

Jörn Kabisch

Stellvertretender Chefredakteur des Freitag von 2008 - 2012 und Kolumnist bis 2022, seitdem Wirt im Gasthaus zum Schwan in Castell

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