Warum soll man essen, was auf den Tisch kommt?

Koch oder Gärtner Das waren noch Zeiten: Es gibt nur eine Mahlzeit und alle Gäste sitzen an einer großen Tafel. Im Burgund gibt es diese Tradition noch und unser Koch hat sie ausgekostet

Dies ist eine Art Ansichtskarte. Herzliche Grüße von Madame Arnaud, Madame Paperin, Monsieur Luc und vielen anderen Menschen, die mich in den vergangenen Tagen bewirtet haben, mit der typischen Mutterküche der französischen Provinz: herzhaft und reichhaltig – diese etwas aus der Mode gekommenen Attribute füllen sich beim ersten Bissen wieder mit Leben.

Ich mache Urlaub, im Süden des Burgunds und das auch aus einem kulinarischen Grunde. Er heißt table d‘hôte, was sich schwieriger liest als es klingt, nämlich einfach tabldoot. Es ist ein Genuss, über ein paar Tage hinweg essen zu müssen, was auf den Tisch kommt. Das ist das Prinzip dieser Gastronomie, die nur in Frankreich flächen­deckend anzufinden ist. Dort, wo die Landflucht viele Dörfer in einen dornigen Schlaf geschickt hat und der Tourismus nur kleine Blüten treibt, im Hinterland also, gibt es oft keine Alternative mehr. Private Zimmervermieter (Chambre d‘hôte) bieten an, abends am Gästetisch Platz zu nehmen. Das Menü ist fix und der Preis auch, um die 20 Euro kosten die vier Gänge, Wein meist inbegriffen. Ein mehr als akzeptabler Preis für die Über­raschungen, die einen erwarten.


Madame Arnaud etwa stellte gleich zu Beginn eine ganze Batterie von Flaschen auf den Tisch. Und sie hatte die größte Freude, dass sich der Aperitif zu einer kleinen Likörverkostung ent­wickelte. Sie setzt die Spirituosen selbst an mit Schlehen, schwarzen Johannisbeeren oder Weinbergpfirsichen. Monsieur Arnaud beobachtete zwar etwas eifersüchtig seinen Vin de noix, ein Ansatz aus Rotwein, Traubenbrand und grünen Walnüssen, aber das musste er gar nicht. Der Löwenzahnlikör stellte sich, überraschend herb, als Favorit der Gäste heraus.

Am Tisch des Wirtes

Typische Gerichte an der table d‘hôte sind Quiches zur Vorspeise, Schmorgerichte im Hauptgang und nach dem Käse zum Dessert ein Stück Tarte. Reichhaltig eben. Das Backwerk kommt frisch aus dem Ofen, das Fleisch hat viel Zeit bekommen, im Rotwein mürbe und aromatisch zu werden. In einem Restaurant würde man das selten bekommen und wahrscheinlich auch selten bestellen. Das macht den Reiz aus, auch für den Gaumen. Ich habe in den vergangenen Tagen drei verschiedene Zubereitungen von Bœuf bourguignon gekostet, jede anders, jede auf ihre Weise delikat.

Die table d‘hôte ist ein gastronomisches Relikt. Über Jahrhunderte hinweg war das gemein­same Mahl am Tisch des Wirtes in Europa der Standard kulinarischen Fremdenverkehrs, bis ins 19. Jahrhundert hinein. Neue Techniken der Vorratshaltung, die Professionalisierung der Köche und was noch alles der Erfindung der Speisekarte vorausgehen musste, machten den großen Tafeln dann den Garaus. Die Gesellschaft individualisierte sich, man wollte lieber unter sich bleiben, an kleineren Tischen. Das hatte einiges für sich. In der großen Runde herrschte ein babylonisches Sprachengewirr, man saß Wildfremden gegenüber – und wer anständig essen wollte, musste sich beeilen.

So ist das übrigens noch immer, aber weil es heute die Ausnahme von der Regel ist, eben nicht unangenehm. Wenn Gleichgesinnte Platz nehmen, und das passiert durchaus, schmelzen Sprachgrenzen und andere Reserviertheiten schnell.

Das Thema ist – natürlich – Essen und Trinken. Und dabei entdeckt man schnell, dass die Lingua franca der Genuss ist, spätestens, wenn die Tafelgesellschaft dabei anlangt, Übersetzungen für Zutaten und Gerichte zu finden und dabei in jeden verfügbaren Wortschatz greift. Ich habe so gelernt, das Löwenzahn auf Französisch einen weit weniger lieblichen Namen hat. Pissentlit klingt zwar schön, bedeutet aber: Piss ins Bett.

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Geschrieben von

Jörn Kabisch

Stellvertretender Chefredakteur des Freitag von 2008 - 2012 und Kolumnist bis 2022, seitdem Wirt im Gasthaus zum Schwan in Castell

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