Was hast du am 11. September gegessen?

Der Koch Jeder hat sein eigenes Erinnerungsmuster für weltbewegende Ereignisse. Für unseren Kolumnisten ist es das Essen
Ausgabe 09/2016
Für den Koch unvergesslich: die erste Kaffee-Granita seines Lebens
Für den Koch unvergesslich: die erste Kaffee-Granita seines Lebens

Foto: Westend61/Imago

Das Gedächtnis ist eine seltsame Angelegenheit. Meine Tante zum Beispiel gehörte zu den Menschen mit dem präziseren Erinnerungsvermögen in meiner Familie. Man konnte sie fragen, in welchem Jahr dies oder jenes passiert war. Ihr Raster war das Wetter. Sehr viele Ereignisse konnte sie mit einer besonderen meteorologischen Situation verknüpfen, mit irgendeinem Hitzemonat oder Jahrhundertwinter, und hatte, zack, die Jahreszahl parat. Sie war da immer sehr bestimmt. Mich hat das jedes Mal erstaunt. Ich erinnere mich selten an Wetter, dafür aber an viele andere Dinge. Ich nehme als Beispiel den 11. September 2001, weil vielen der Tag noch im Gedächtnis ist, trotz der vielen Terrordaten danach. Der Trigger für meine Erinnerung ist: Ich weiß noch genau, was ich damals gegessen habe. Nämlich die erste Kaffee-Granita meines Lebens, auf Lipari, einer kleinen Insel nördlich von Sizilien.

Es war an diesem Septembermorgen schon so warm, dass ein feiner Schweißfilm auf der Brust klebte. Und diese süßen Eiskristalle zu essen, das war, als stünde ich mit den Schultern unter einem kalten Gebirgsbach, eine Tasse Espresso an den Lippen. Absolute Schnelllöffelgefahr. Das fällt mir zuerst ein, und dann erst, wie ein paar Stunden später der Hirnfrost einsetzte. Als ich aus einem Radio auf einer Fensterbank ein paar Fetzen aufschnappte – Stati Uniti, Fuoco, Fumo – und in die Gesichter der Einheimischen sah. Aber das ist nicht nur so bei weltbewegenden Ereignissen.

Für viele Reisen brauche ich kein Fotoalbum. Es ist ein Gericht, mit dem der Film startet. Mein erster Korsika-Urlaub: Cannelloni, mit einer scharfen und zugleich orientalischen Hackfleischfüllung. Meine erste Arbeitswoche: In der Kantine gab es drei Tage hintereinander Tote Oma. Nur nach der Jahreszahl darf man mich nicht fragen. Seitdem ich festgestellt habe, dass ich mir das meiste im Leben mit dem merke, was um den Tag herum auf dem Teller lag, erinnere ich mich auch gern an schlechtes Essen und betreibe Erinnerungsarbeit. Allerweltstage werden mit Allerweltsessen verabschiedet. Aber es kann auch ein gutes Buch sein, das mich an den Herd zwingt.

Oft funktioniert das ganz unbewusst. Sartres Ekel riecht in meinem Kopf nach Zwiebelsuppe, der Ulysses nach Nierchen, weil ich das Leibgericht von Leopold Bloom nachkochen musste, und W. G. Sebalds großartiger Roman Austerlitz – es ist ein bisschen traurig – nach angebranntem Blumenkohl.

Als wir uns kennenlernten, bemerkte meine künftige Lieblingsesserin einmal, es sei auffällig, wie einseitig ich um sie werbe. Ständig sei ich am Kochen oder schlage Restaurants vor. Aber sie lag falsch: Jeder Tag war so gut, ich wollte das einfach auf meine Art festhalten (Und es war ein Test: Teilte sie meinen Sinn für gutes Essen?). Es wäre sonderbar, würde ich nicht auch Menschen mit Essen verbinden. Meine Tante etwa: Bei ihr gab es oft Pfannkuchen, wie man in Bayern zu Eierkuchen sagt, ganz dünn ausgebacken und gewickelt und gefüllt mit Rahmspinat. Einer der Klassiker aus meinen Kindertagen. Die anhaltende Begeisterung dafür kann ich nur schwer vermitteln.

Meine Tante ist vor kurzem gestorben. Ihr zu Ehren möchte ich mich so lange wie möglich erinnern, dass es an einem grauen Tag in dem viel zu warmen Januar 2016 war. Aber ich bin sehr froh, dass sie sich bei einer unserer letzten Begegnungen noch einmal für mich an den Herd stellte und Pfannkuchen buk.

Jörn Kabisch schreibt als Der Koch für den Freitag regelmäßig über Küchen- und Esskultur

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Geschrieben von

Jörn Kabisch

Stellvertretender Chefredakteur des Freitag von 2008 - 2012 und Kolumnist bis 2022, seitdem Wirt im Gasthaus zum Schwan in Castell

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