Wie wir Geschmack neu erfinden können

Der Koch Vom Samen bis zum letzten Schiss ist so ziemlich alles in unserer Nahrungskette Untersuchungsgegenstand. Nur eines wurde zu lange vernachlässigt: der Geschmack
Ausgabe 44/2017
Smells like teen spirit
Smells like teen spirit

Foto: Fox Photos/Hulton Archive/Getty Images

Ich wünschte, ich könnte noch einmal an die Uni gehen. Es ist faszinierend, was sich da gerade tut, wenn sich Forscher des Geschmacks annehmen. Einerseits. Andererseits ist es doch irgendwie sehr spät. Warum ist dieses Feld, eben der Geschmack, die Wissenschaftler sagen Sensorik, so lange ein weißer Fleck auf der akademischen Landkarte geblieben? Völlig unbeackert ist das Gebiet ums Essen nun nicht: Es gibt die Ernährungswissenschaftler und die Gastroenterologen, Lebensmittelchemiker und Agrarökonomen, Allergologen und Kulturanthropologen. Vom Samen bis zum letzten Schiss ist so ziemlich alles in unserer Nahrungskette Untersuchungsgegenstand, die Folgen für Körper, Umwelt, Wirtschaft, Politik und Kultur mit eingerechnet. Bei der Betrachtung, wie der Mensch seinen Hunger stillt, hat die Wissenschaft nur lange eines kaum interessiert: der Kopf, durch den die Nahrung geht. Also Zunge, Nase und wie das Hirn die Informationen dieser Sinnesorgane verarbeitet. Wie schmecken wir und wie viel? Es gibt noch mehr Fragen und Antworten, wenn ich Bob Holmes vertrauen darf, sein Buch Geschmack (Riemann-Verlag) liest sich wie eine Abenteuerreise durch Labors und Hörsäle. Er trifft Neurologen, Psychologen und Genetiker, erzählt von Menschen, die wie Hunde mit der Nase am Boden versuchen, einer Schokoladenspur zu folgen (offenbar eine leichte Übung), testet seinen eigenen Riecher mit einem Olfaktometer und begegnet Verhaltensforschern, die entdeckt haben, dass alle Menschen sich unwillkürlich die Hand vor die Nase halten, wenn sie sie jemand anderem gereicht haben. Tue ich das etwa auch?

Ich weiß jetzt, warum ich so gern die Hand gebe. Auslöser ist eine noch relativ junge Entdeckung. Anfang der 1990er Jahre identifizierten die Biologen Linda Buck und Richard Axel die für die Erkennung von Geruchsmolekülen verantwortlichen Rezeptoren auf der Riechschleimhaut. 2004 bekamen sie dafür den Nobelpreis. Seitdem wird das wissenschaftliche Interesse immer größer. Und die Forscher staunen, welch sensiblen, komplexen Wahrnehmungsapparat sie vorfinden. Längst ist das Wissen überholt, dass es auf der Zunge verschiedene Geschmackszonen gibt. Und wir schmecken dort auch mehr als nur süß, sauer, bitter, salzig und scharf. Da ist umami, also herzhaft. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass es auch Papillen gibt, die auf Fettsäuren ansprechen.

Geht es um den Geruch, wird es noch komplizierter. Die Genforschung hat festgestellt, dass von den 20.000 menschlichen Genen tausend für die Bildung von Geruchsrezeptoren zuständig sind, eine ganze Menge. Etwa die Hälfte von ihnen sind im Laufe der Evolution abgeschaltet worden, doch welche funktionieren, unterscheidet sich offenbar auch von Mensch zu Mensch. Jeder Mensch riecht und schmeckt ganz individuell.

Längst nutzt die Lebensmittelindustrie die Ergebnisse der Geschmacksforschung. Im Labor werden Aromen nachgebaut, um Zunge und Nase zu foppen. Sie nutzt aus, dass Töne und Bilder an Hirnregionen gemeldet werden, die auch für die Sprache zuständig sind, Gerüche und Aromen aber noch Bereiche durchlaufen, die Emotionen steuern. Es liegt in der menschlichen Biologie, das wir oft nicht mehr als „lecker“ sagen können. Ich finde das eine große Herausforderung für kulinarische Emanzipation. Es ist ein aufklärerisches Projekt, Ess-Intelligenz aufzubauen und dem Geschmack Worte zu geben.

Jörn Kabisch schreibt als Der Koch für den Freitag regelmäßig über Küchen- und Esskultur

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Geschrieben von

Jörn Kabisch

Stellvertretender Chefredakteur des Freitag von 2008 - 2012 und Kolumnist bis 2022, seitdem Wirt im Gasthaus zum Schwan in Castell

Jörn Kabisch

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