Zehn Minuten sind mir zu schnell

Gorillas, Flink & Co. Unser Kolumnist kann mit den ultraflotten Lieferdiensten wenig anfangen – aus verschiedenen Gründen
Ausgabe 42/2021
Kleine Pause: So einfach ist es heutzutage schon, zu streiken
Kleine Pause: So einfach ist es heutzutage schon, zu streiken

Foto: David Gannon/AFP/Getty Images

Schlange stehen, kennen Sie das noch? Vorige Woche, da stand ich mal wieder in einer, gefühlt das erste Mal wieder seit Jahren. An einem China-Imbiss, der selbst gezogene Nudeln anbot. Es fühlte sich fremd an, nach dem richtigen Ende der Schlange zu fragen.

Anstehen, vor allem für Essen, ist heute ein Anachronismus. Vor allem da, wo ich wohne: Berlin-Mitte, in Deutschland das Labor für die Plattformökonomie, den Übergang in die neue Dienstbotengesellschaft. Wenn man hier vor Restaurants Menschen sieht, die warten, dann sind es Menschen mit farbigen, würfelförmigen Rucksäcken, sogenannte Rider. Ich sehe sie zum Beispiel bei Francesco, er betreibt die Pizzeria um die Ecke. Ich hole dort auch regelmäßig Essen, trinke beim Warten einen Averna und wechsle ein paar Worte mit Francesco. Er erzählt, die meisten seiner Pizzen werden nicht weiter als 200 Meter in die Nachbarschaft geliefert: „Eigentlich dürften die Rider gar nicht das Rad nehmen; aufsteigen, absteigen, absperren: da verlieren die Zeit.“

Aber Geduld ist nicht mehr. Und es gibt da offenbar eine neue Schere in der Gesellschaft. Menschen, denen eine halbe Stunde zu kostbar ist, um sich für ein paar Minuten aus dem Haus zu bewegen, um Lebensmittel einzukaufen oder sich Essen servieren zu lassen, und Firmen, die zehn Minuten, die es braucht, eine Packung Nudeln an die Wohnungstür zu bringen, für null Euro anbieten.

Der Faktor Zeit in vielen Lebensbereichen entschärft. Alles ist jederzeit zu haben, im Internet sind die Läden 24 Stunden offen, Twitter bedient Echtzeitnachrichten, Google Maps errechnet, wie lange man von A nach B braucht, um superpünktlich an jedem Zielort einzutreffen. Ist es zu lästig, acht Minuten auf die nächste Tram zu warten, gibt es eine App, um Taxi, Fahrdienst oder einen selbst zu bedienenden fahrbaren Untersatz mit ein, zwei, drei oder x Rädern zu buchen. Nicht nur für die Wirtschaft, auch für das Leben gilt das „Just-in Time-Prinzip“. Das ist das Versprechen.

Gerade ist der Bringdienst Gorillas in den Nachrichten. Die Rider streiken wegen der Arbeitsbedingungen. Weil sie ihre Pausen auf Straßen und Gehwegen machen und das Unternehmen nun auch noch die Warenlager dorthin ausweitet, ist die Nachbarschaft zunehmend genervt. Mir hingegen reicht es schon, dass Gorillas damit wirbt, dass jede Bestellung in zehn Minuten geliefert wird.

Ich bin da komplett die falsche Zielgruppe. Denn mir ist das zu schnell. Zehn Minuten – die reichen kaum, um den Ofen vorzuheizen, bis die Tiefkühlpizza geliefert ist. Oder das Wasser aufzusetzen und Pasta al dente zu kochen, bis der Rider das Glas Nudelsoße aus dem Rucksack zieht.

Wer bei Gorillas bestellt, bei Flink, Getir oder Bring, braucht keinen Kühlschrank mehr oder irgendeine Form von Vorratshaltung. Es gibt offenbar Menschen, die das als Luxus verstehen oder vielleicht sogar für eine Selbstverständlichkeit halten. Gut, man könnte das als Anti-Prepper-Einstellung verstehen, also als optimistische, zukunftsverheißende Gegenbewegung zu einer Gruppe, die versucht, auf jede Art von Apokalypse vorbereitet zu sein. Aber wenn der Sofort-haben-wollen-Impuls dann zu sehr ausbeuterischen Verhältnissen führt, siehe Gorillas-Streik, muss man hinter die Zukunftsfähigkeit ein großes Fragezeichen machen. Denn das ist alles nicht nachhaltig. Bei aller Sympathie, die auch ich für den Arbeitskampf der Würfelbox-Rider habe: Bitte, verkämpft euch nicht. Sucht euch lieber andere Jobs.

Ich übe mich derweil in Geduld. Denn Warten, das habe ich vor dem Nudelimbiss wieder gelernt, hebt die Vorfreude und dann den Genuss.

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Geschrieben von

Jörn Kabisch

Stellvertretender Chefredakteur des Freitag von 2008 - 2012 und Kolumnist bis 2022, seitdem Wirt im Gasthaus zum Schwan in Castell

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