Zum Glück ist Essen anti-identitär

Der Koch Haben Gerichte eine Sexualität? Unser Kolumnist ergründet seine kulinarische Herkunft
Ausgabe 14/2019
Essen ist, was man draus macht
Essen ist, was man draus macht

Foto: Westend61/Imago

Ich komme gerade von einer längeren Reise zurück. Und wie immer mache ich nicht einmal die Wohnungstür zu, laufe noch im Mantel, die Reisetasche über der Schulter, in die Küche und schalte die Espressomaschine an. Sie knattert, pumpt und dampft, während ich die Post durchsehe, die Tür schließe, die ersten Sachen auspacke. Spätestens dann ist die Maschine betriebsbereit, ich gehe ans Kochen: Kaffee mahlen und in den Siebträger einfüllen, anpressen, ihn an die Maschine anhebeln, und dann Milch aufschäumen, während der Espresso dick wie Sirup in die Tasse läuft. Dieses Minimum an Zubereitung brauche ich, um wieder zu Hause zu sein. Und das sogar wenn noch vor ein paar Stunden – sagen wir in Triest – der perfekte Espresso vor mir stand. Es geht um das Ritual. Wenn bei der Rückkehr ausnahmsweise keine Milch oder kein Kaffee da ist, werde ich hektisch.

Ich erzähle diese kleine Episode, weil sie mir als erstes einfiel, als ich neulich nach meiner kulinarischen Identität gefragt wurde. Es war auf einer Veranstaltung, auf der auch der Satz fiel, Essen habe Sexualität als Freiheitsplattform abgelöst. Was man isst oder gerade nicht isst, verrät vieles über den persönlichen Lebensstil, zunehmend auch die soziopolitische Grundeinstellung. An sich nicht problematisch. Zu einem Problem wird es nur, wenn der das Ego schmeichelnde Distinktionsgewinn sich zum Abgrenzungskrampf wandelt, wie man das heute immer mehr beobachten kann.

Je länger man sich mit der weltweiten Esskultur und ihrer Geschichte auseinandersetzt, um so bunter wird das Bild, wie sich Menschen über Länder-, Macht- und Religionsgrenzen ausgetauscht haben. Wie sie sich gegenseitig zeigten, was gut ist. Die menschliche Ernährung ist eine jahrtausendjährige Geschichte kraftvoller Globalisierung. Eben habe ich einen Aufsatz gelesen, wie sehr es Menschen auf allen Kontinenten lieben, ein Stück Fleisch zwischen zwei Brothälften zu stecken und es aus der Hand zu essen. Die Liebe zur Schinkenstulle ist die gleiche wie zum Kebab. Gerade nationale kulinarische Identitäten entpuppen sich oft als reine Konstruktion, ein Mischmasch aus kultureller Aneignung, nie eindeutig abgrenzbar. Nehmen wir, was heute so als typisch deutsch gilt: Die Kartoffel stammt aus Mittelamerika. Das Schwein wurde in China domestiziert. Und Brot hat seine Ursprünge in Mesopotamien. Wie wäre es, seine Identität einfach an der Garderobe abzugeben? Oder sogar ganz zu zertrümmern? Was würde es schaden? Diesen simplen Gedanken haben die Protagonisten in Michael Kleebergs Roman Der Idiot des 21. Jahrhunderts, das eben auf meinem Nachttisch liegt. Es handelt von einer wild zusammengewürfelten Schar an Menschen aus Ost und West, Polen und Deutsche, Syrer und Iraner, die sich ihre Lebensgeschichten erzählen. Das Buch wird auf der Folie des west-östlichen Divans von Goethe erzählt, ein großes Buch, radikal anti-identitär. Beim Lesen verschwimmt alles, was man jemals für spezifisch orientalisch angesehen hat. Oder westlich.

Wenn Essen zu einem Identitätsprojekt wird, dann führt das zu einer Entsolidarisierung der Esser. Weil sich dann immer weniger gemeinsam an einen Tisch setzen und Beisammensein zelebrieren können. Das ist die Kehrseite, wenn vom Essen als neuer Freiheitsplattform die Rede ist. Und es ist das Tragische. Wer kulinarisch nicht zusammenpasst, tut das auch im Sozialen nicht? Das denke ich mir so beim ersten Cappuccino wieder zuhause.

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Geschrieben von

Jörn Kabisch

Stellvertretender Chefredakteur des Freitag von 2008 - 2012 und Kolumnist bis 2022, seitdem Wirt im Gasthaus zum Schwan in Castell

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