Die Lage spitzt sich zu

Palästina Nach Anschlägen in den vergangenen zwei Wochen droht die Situation im Westjordanland zu eskalieren

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36 Kilometer Luftlinie trennen die palästinensischen Städte Ramallah und Nablus. Etwas mehr als eine halbe Stunde dauert die Fahrt von der einen Stadt in die andere. Ein Katzensprung also, normalerweise. Dieser Tage ist jedoch alles anders: Am Samstag begannen israelische Soldaten die Pässe der Durchreisenden zu kontrollieren. Es bildeten sich kilometerlange Staus, die Überfahrt zog sich in die Länge, dauerte mehrere Stunden an. Schließlich wurde Nablus am Sonntag abgeriegelt, sowohl die Ein- als auch die Ausreise unmöglich, die Stadt regelrecht „geschlossen“.

Der Grund für die lahmgelegte Infrastruktur sind israelische Checkpoints, die nach Anschlägen der vergangenen Woche und darauf folgenden Auseinandersetzungen zwischen Palästinensern einerseits und israelischen Streitkräfte und Siedlern andererseits wieder verschärft ihren Betrieb aufnahmen. Die Stimmung im gesamten Westjordanland ist merklich angespannt: Tagtäglich kommt es zu Tumulten in Städten wie Hebron, Betlehem, Jerusalem, Ramallah sowie an bekannten Checkpoints wie dem berühmt-berüchtigten in Kalandia. Seit Freitag zählt das Rote Kreuz mehr als 500 Verletzte. Zahlreiche palästinensische Gewerbetätige traten in den Generalstreikt. Das Auswärtige Amt empfiehlt in einem aktuellen Schreiben, größere Menschenmengen zu meiden, Erledigungen in der Jerusalemer Altstadt bis auf weiteres zu verschieben und auf den ÖPNV zu verzichten.

Die Chronik einer Endlosschleife

Sucht man nach so etwas wie einem Ursprungspunkt der aktuellen Unruhen, muss man etwa eine Woche zurückgehen: Am Donnerstag, 1. Oktober wurde das israelische Ehepaar Eitam und Naama Henkin bei einer Autofahrt zwischen der Siedlung Itamar und Elon Moreh vor den Augen ihrer vier Kinder erschossen. Das Ereignis heizte die Stimmung gehörig auf: Das israelische Militär entsandte eine ganze Suchtruppe, um die Täter ausfindig zu machen. Der israelische Präsident Reuven Rivlin kündigte an, den Terror ohne Angst, Gnade und Feigheit zu bekämpfen.

Zwei Tage später ermordete der Palästinenser Mohannad Halabi, ein 19-jähriger Jurastudent der al-Quds Universität in Ost-Jerusalem, zwei Siedler mit Messerattacken. Die Tat kündigte er zuvor auf Facebook an. Auf dem sozialen Netzwerk postete er: „Wie lang wird diese Demütigung und Schande anhalten? Nach dem, was ich zurzeit beobachte, hat die dritte Intifada begonnen. Der Widerstand ist innerhalb der aktuellen Rahmenbedingungen rechtmäßig“. Damit nahm er Bezug zu der Ermordung des 21-jährigen Diaa Talameh aus der Nähe von Hebron vor zwei Wochen, der bei Gefechten von israelischen Streitkräften getötet wurde. Bei der Beerdigung Talamehs war Halabi vor Ort.

In Folge des Anschlags von Mohannad Halabi kam es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen in der Altstadt Jerusalems sowie in Städten wie Hebron, Betlehem und Nablos. Besonders betroffen war die Hauptstadt der Autonomiegebiete Ramallah. Israelische Siedler drangen in die Provinz Al-Birah im Norden der Stadt ein, wo sich das Haus der Familie Halabi befand.

Zeitgleich kam es zu Solidarisierungsmärschen in Jerusalem, bei der nationalistische Juden „Tod den Arabern“-Chöre anstimmten. Der Mob attackierte palästinensische Autofahrer und Zivilisten. Kurz nach 2:00 Uhr der Nacht von Freitag auf Samstag kam es in der Nähe des Damaskustores zu der Ermordung von Fadi Aloon durch israelische Streitkräfte. In westlichen Medienberichten wird darauf verwiesen, dass dieser einen israelischen Jugendlichen mit einem Messer angegriffen haben soll. Ein inzwischen aufgetauchtes Video stellt diese Darstellung zumindest in Frage.

Gegen vier Uhr derselben Nacht fuhren Jeeps der IOF-Streitkräfte in Al-Birah ein. Der Zusammenschluss israelischen Siedler und Militärs belagerte das Haus von Halabis Familie. Palästinenser setzten sich mit Hilfe von Wegblockaden, brennenden Reifen und Steinen zur Wehr. Auf israelischer Seite kamen Gummigeschosse zum Einsatz.

In der Folgenacht, keine 24 Stunden später, gelang es der israelischen Seite, das Haus des Attentäters von Jerusalem einzunehmen – und aufs übelste zu demolieren. Häuserzerstörungen sind dabei eine bekannte Vergeltungspraxis, die die Familienangehörigen von Attentätern bestrafen soll. Die Praxis ist jedoch als Form kollektiver Bestrafung höchst umstritten und nach internationalem Recht illegal.

Endlosschleifen und Vergeltungsaktionen

Die Gefechte wurden zusätzlich von den Reden des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu und des palästinensischen Präsidenten Mahmud Abbas bei der 70. Generalversammlung der Vereinten Nationen angeheizt. Abbas kündigte in seiner Rede die Beschlüsse des Osloer Abkommens offiziell auf. Seine Worte wurden in vielen palästinensischen Städten frenetisch (u.a. mit Feuerwerken) gefeiert. Netanjahu stellte in aggressiver Kriegstreiber-Rhetorik Israel als einzige Demokratie des Nahen Ostens und dauerhaftes Opfer terroristischer Gewalt dar.

Eine anonyme Regierungsquelle aus der Regierung Benjamin Netanjahus wird wie folgt zitiert: „Die Palästinenser wollen eine dritte Intifada? Sie werden ein zweites Defensive Shield kriegen“. Die Operation Defensive Shield war eine Maßnahme des israelischen Militärs aus dem Sechstagekrieg 1967. Dabei wurden Einschüchterungsmaßnahmen in nahezu allen palästinensischen Städten des Westjordanlands durchgeführt. Der Bodycount der damaligen Maßnahmen wird auf nahezu 500 geschätzt.

Man kann jetzt nach der unrechtmäßigen Besatzung palästinensischer Gebiete durch israelische Siedler fragen. Man kann in der blutrünstigen und grausamen Exekution einen öffentlichen Affront sehen. Und man kann auch Mahmud Abbas ankreiden, die Anschläge von Jerusalem bis heute nicht offiziell verurteilt zu haben.

Diese einzelnen Teilerklärungen sind aber unzureichend, um die derzeitigen Tumulte in ihrer Gesamtheit zu begreifen. Tatsächlich sind alle Ansätze gewissermaßen erklärungsfähig; das Zustandekommen einer dermaßen hitzigen Situation ist aber multikausal. Politischer Aktivismus, Hinrichtungen, ambivalente Aussagen – all diese Faktoren befeuern sich gegenseitig und sind in ihrer Summe der Zunder, der den Brand verursacht. Dabei fällt es schwer, Opfer und Täter eindeutig zu benennen – vielmehr handelt es sich um eine Gewaltspirale, in der jedes Opfer Vergeltung fordert, was wiederum die nächste Racheaktion nach sich zieht.

Die Lage in Ramallah ist derzeit angespannt. Die aktuellen Übergriffe in Al-Birah schweißen die Stadt zusammen: palästinensische Flaggen werden gehisst, das Polizeiaufgebot erhöht, die Straßen wirken schon am frühen Abend wie leergefegt. Die Tötung eines 13-jährigen palästinensischen Jungen durch das israelische Militär am Montag markiert einen vorübergehenden Höhepunkt der Kampfhandlungen. „Es steht alles auf Facebook, die Wut ist zu spüren. Freiheitskämpfer werden Terroristen genannt. Wir haben nicht das Recht, unser eigenes Land zu beschützen. Die israelische Armee zerstört Gaza, Jenin und die gesamte West Bank – und am Ende sind wir die Terroristen. Wir werden das ändern!“, sagte der Onkel des Attentäter Mohannad Halabi. Zu den gleichen Taten fand Rivlin folgende Worte: „Wir werden die Mörder der unschuldigen und reinen aufsuchen, (…) und ihnen einen heftigen Schlag verpassen.“ Für beide Aussagen gilt: Friedensrhetorik funktioniert anders.

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Geschrieben von

jkaron

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