Drei Wochen Ausnahmezustand

Subversive Kunst Doris Liebermann arbeitet im Buch "Ein Piratenstück" die Geschichte des 1. Leipziger Herbstsalons 1984 akribisch auf

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Drei Wochen Ausnahmezustand

Bild: Ausschnitt Cover "Ein Piratenstück"

Der Titel Ein Piratenstück klingt reißerisch, doch das Buch ist eine betont sachliche Dokumentation. Aus heutiger Sicht – besonders für Leute jünger als 40 – kann die Sache, um die es geht, auch gar nicht so spektakulär klingen, als dass man dafür 340 Seiten bedrucken müsste. Einen leeren Raum mieten, in dem sechs Künstler mittleren Alters ihre Arbeiten für drei Wochen zeigen – na und?

Doch die gesellschaftlichen Umstände in der DDR Mitte der achtziger Jahre unterscheiden sich eben deutlich von den heutigen. So war es tatsächlich etwas Unerhörtes, dass vorbei an allen Mechanismen des offiziellen und straff reglementierten Kulturbetriebes die Leipziger Künstler Günther Huniat, Olaf Wegewitz, Lutz Dammbeck, Hans-Hendrick Grimmling, Günter Firit und Frieder Heinze den 1. Leipziger Herbstsalon organisierten und durchzogen. Das passierte nicht irgendwo am Stadtrand in einem Abrissgebäude, sondern im zentral gelegenen Messehaus am Markt im Spätherbst 1984. Der Weihnachtsmarkt vor den Türen lief schon, eine Etage höher war eine Modellbahnausstellung zu sehen, und zeitgleich mit der Eröffnung fand die international besuchte Dokfilmwoche statt.
Treibende Kraft des Projektes war Günther Huniat, der es wenige Jahre zuvor schon geschafft hatte, die Stötteritzer Freiluftgalerie zu eröffnen, die erst im Sommer 2014 wegen Investorengelüsten schließen musste. Obwohl Autodidakt, konnte er Anfang der siebziger Jahre dem Künstlerverband beitreten – unerlässige Voraussetzung zum Erhalt einer Steuernummer, an welche die freiberufliche Tätigkeit geknüpft war. In den Verbandsstrukturen stieg er ganz bewusst bis zum stellvertretenden Bezirksvorsitzenden der Sektion Malerei/Grafik auf. Unter Angabe dieser Funktion mietete er dann legal die Etage im Messehaus an. Zu den größten Schwierigkeiten gehörte es, dass die Beteiligten bis kurz vor der Eröffnung „dicht hielten“, auch guten Freunden nichts erzählten. Als dann die Einladungen verschickt waren und die Täuschung offenbar wurde, erwirkte ein beauftragter Rechtsanwalt unter Berufung auf die Klauseln des Mietvertrages eine einstweilige Verfügung, um Gegenmaßnahmen zu verhindern. Da die Partei- und Verbandsoberen zu Recht bei einer erzwungenen Schließung einen öffentlichkeitswirksamen Skandal befürchteten, fand der Herbstsalon unter strengen Auflagen dann doch statt. Es durfte keinerlei Werbung gemacht werden, auch keine Pressearbeit. Und die Besucherzahl war eigentlich streng limitiert. Dennoch sahen in drei Wochen rund 10.000 Leute den Herbstsalon, die Aktion hatte sich schnell herumgesprochen und in republikweitem Umkreis Interessierte angezogen.
Der Name spielt sowohl auf Herwart Waldens Ersten Deutschen Herbstsalon von 1913 an als auch auf den Pariser Salon d´autumne, der schon für Walden Vorbild war. Der Vergleich ist problematisch, gab es doch weder Ausschreibung noch Kurator. Auch die Zahl von nur sechs noch nicht sonderlich bekannten Künstlern ist bescheiden. Eigentlich sollte jeder Beteiligte noch weitere Maler, Grafiker etc. einladen können. Doch der Gedanke wurde wegen der nötigen Geheimhaltung fallen gelassen.
Heinz Klunker, ein wegen der Dokfilmwoche anwesender Journalist des Deutschlandfunks, der zufällig in den Herbstsalon gestolpert war, bezeichnete die Aktion im Nachhinein als einen Meilenstein auf dem Weg zur Implosion der DDR. Selbst wenn man sich auf kulturelle Faktoren beschränkt, dürfte dies eine heftige Übertreibung sein. Schriftsteller und (Rock-)Musiker hatten sicherlich eine größere Breitenwirkung als diese sechs aufrechten Leipziger Maler. Dennoch: Eine Signalwirkung ging von dem letztlich erfolgreichen „Piratenstück“ aus. So ist beispielsweise die Gründung der Underground-Galerie Eigen+Art, heute ein global player, eine indirekte Folge des Herbstsalons.
In kunsthistorischer Sicht kann man die Auswirkungen eher vernachlässigen. Die sechs sind sehr unterschiedliche Charaktere, übergreifende stilistische Merkmale sind kaum auszumachen. Sie hatten unterschiedliche Lebenswege hinter sich, ihre Lebenspläne waren unterschiedlich. Was sie einte, war der Autonomieanspruch des Künstlers als Gegenentwurf zum Autonomiezwang der DDR-Gesellschaft; sie einte der Glaube an die subversive Kraft der Kunst.
Die Autorin Doris Liebermann ist keine Kunsthistorikerin, sondern hat Slawistik studiert. Wertungen zur Qualität der ausgestellten Arbeiten oder der Künstler insgesamt kommen im Buch deshalb auch nur indirekt in Zitaten vor. Ausgesprochen akribisch arbeitet sie aber die ganze Vorgeschichte auf, zu der auch das gescheiterte Projekt Tangenten gehörte, bei dem einige der späteren Herbstsalon-Akteure gemeinsam mit Musikern und Theaterleuten schon in den Siebzigern ein spartenübergreifendes Ereignis organisieren wollten. Auch die Nachwehen sind ausführlich dargestellt. Dazu gehören die Ausreise von Dammbeck, Grimmling und Firit oder die Enthebung Huniats von seinem Verbandsfunktionen.
Das Buch besteht zu großen Teilen aus der Wiedergabe von persönlichen Erinnerungen der Künstler sowie Dokumenten, viele davon in vollem Umfang. Dazu gehören die Besucherbücher des Herbstsalons, die wenigen im Nachhinein erschienenen Presseartikel, aber auch Protokolle, Briefe, Auszüge aus Stasiakten. Historische Fotos wurden in zwei Blöcken zusammengefasst. Leider haben auch diese rein dokumentarischen Charakter, Werke der Künstler sind höchstens im Hintergrund zu erkennen.
Ein Piratenstück ist keine Publikation, die breite Leserkreise anspricht, nicht einmal die in durchschnittlichem Maße Kunstinteressierten. Sie wendet sich an Spezialisten. Das Verdienst besteht aber darin, eine für die DDR beispiellose Aktion in aller Ausführlichkeit festzuhalten. Es wurde dabei kaum Kunst gezeigt, die man unmittelbar politisch ausdeuten konnte. Das Oppositionelle bestand eher in der Art und Weise des Zustandekommens. Daran zu erinnern, wie schwierig das noch vor dreißig Jahren war, kann auch für manchen jungen Wilden der Gegenwart nützlich sein.


Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

jens kassner

Subjektives zu Politik, Kultur und anderen schönen Dingen

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