Kaum Endzeit, aber Stimmung

Pulp Head John Jeremiah Sullivan stellt den amerikanischen Alltag in seinen versammelten Zeitschriftenartikeln plastisch dar.

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Er kommt aus dem Nichts, schreibt J.J. Sullivan über den Rocksänger Axl Rose. Damit meint er weniger die soziale Herkunft als die geografische, eine Kleinstadt in Central Indiana. Und ein bisschen bezieht er diese Kennzeichnung auch auf sich selbst, wurde Sullivan doch 1974 in Louisville geboren. Zwar ist das mit rund einer Viertelmillionen Einwohnern die größte Stadt in Kentucky. Doch wo liegt schon Kentucky? Irgendwo zwischen den versnobten Neuengland-Staaten und dem auf seine Ödnis auch noch stolzen Mittleren Westen. Nirgendwo. Somit ist der Untertitel „Vom Ende Amerikas“ auch weniger weltpolitisch als örtlich zu verstehen. Eines der Enden Amerikas liegt mittendrin wie ein herausgefallenes Puzzlestück. Und auch als renommierten Journalisten zieht es Sullivan nicht in die quirligen Metropolen, er bleibt dem provinziellen Milieu treu Was aber nicht heißt, dass er da nicht unterwegs ist.

Zum Beispiel zum größten Festival für Christenrock, einem wahren „Godstock“. Christenrock muss deutlich von Rock mit christlichen Inhalten unterschieden werden, weil er „als musikalisches Genre immun ist gegen Qualität.“ Dennoch und trotz des weitgehenden Verzichts auf bewusstseinserweiternde Chemikalien während der Tage des Festivals lässt sich der Autor sich merklich anstecken von Friede, Freude, Gottvertrauen.

Auch mehrere seiner anderen Reisen haben mit den „niederschmetternden geistigen Tiefen der Popkulturkritik“ zu tun, wie er mit viel Selbstironie anmerkt. So besucht er eben das Reunion-Konzert von Guns´n Roses. Und für ein langes Gespräch mit dem letzten lebenden Musiker der Wailers. Bob Marleys Band, fliegt er sogar nach Kingston. Jamaika. Andere Exkursionen in Sachen Musikgeschichte sind eher virtueller Natur. Für einen Text über Michael Jackson, bei dem dessen sexuelle Orientierung eine wichtige Rolle spielt, sichtete Sullivan diverses Archivmaterial. Viel weiter in die Historie zurück reichen Recherchen zu ganz frühen Plattenaufnahmen vom urtümlichen Country Blues. Dafür telefoniert er eine Nacht lang mit einem Veteran dieser Musikrichtung, der manche jener Sängerinnen und Sänger selbst kannte. Interessant ist der Anlass für diese Nachforschungen. Als Jungredakteur hatte John Jeremiah Sullivan die Aufgabe, Fakten und Zitate aus Songtexten im Manuskript des nicht gerade unbekannten Autors Greil Marcus auf Richtigkeit zu prüfen – ein Nachruf auf langsam aussterbende Tugenden der Publizistik.

Die in „Pulp Head“ versammelten Texte, zwischen 1999 und 2011 entstanden, wurden für Journale wie Gentelman´s Quarterly, hierzulande besser unter dem Kürzel GQ bekannt, Harper´s Magazine oder Paris Review geschrieben. Bei dem Genre Essay im Zusammenhang mit US-amerikanischen Autoren denkt man heute zuerst an Mark Greif und die anderen Autoren rund um n+1. Doch nicht nur wegen der bewussten Ferne Sullivans zu den hippen Großstädten haben seine Texte wenig mit diesen intellektuell verfeinerten Gedankenspielen zu tun. Häufig scheint die Bezeichnung Reportage näher liegend, und Bezugspersonen wie Studs Terkel oder Norman Mailer schimmern durch.

Dass ganz Amerika in dieses Buch gepackt sei, ist eine unnötige Marketingfloskel des Verlages. Sullivan hat bestimmte Themen. Zuerst die Spielarten populärer Musik, dann weitere Facetten der Popkultur, schließlich aber auch naturwissenschaftliche Forschungen. Bei all dem vorhandenen oder umfänglich recherchierten Detailwissen erreicht er durch konsequente Ich-Perspektive, nette Anekdoten und viel atmosphärische Nebensächlichkeiten einen literarischen Duktus, der auch Leser mitreißt, die vom jeweiligen Gegenstand keinerlei Ahnung haben. Am intensivsten ist dieses Anderhandnehmen bei ganz persönlichen Erfahrungen wie einem ungewollten Ausflug nach Disney World, der Einquartierung einer Seifenoper-Produktion im eigenen Wohnhaus oder dem seltsamen Praktikum beim uralten Südstaaten-Schriftsteller Andrew Lytle.

„Man muss nicht gleich den ganzen Tag Nelkenzigaretten rauchen oder in Hafenspelunken ungeschützten Sex mit Transen haben, aber genau so wenig muss man diesen Dingen abschwören, wenn man sich mit ihnen besonders lebendig fühlt.“ Derart ermutigend führt J.J. Sullivan in einen mit der für ihn üblichen Gewissenhaftigkeit erstellten Bericht über den vermutlich bevorstehenden Aufstand mancher Tierarten gegen die menschliche Dominanz ein. Manchmal kommt aber alles ganz anders als erwartet. Die englische Genrebezeichnung Non-fiction stellt für den Autor keine feste Grenze dar.

John Jeremiah Sullivan: Pulp Head. Vom Ende Amerikas

Suhrkamp Berlin 2012; 416 Seiten; 20,00 €

Lesungen mit J.J. Sullivan:

30.10 Köln; 31.10. Frankfurt a.M.; 01.11. Hamburg; 02.11. Leipzig; 04.11. Berlin

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

jens kassner

Subjektives zu Politik, Kultur und anderen schönen Dingen

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