Ob man ihn mag oder nicht, ob man seinen Theorien zustimmt oder nicht – dass Peter Sloterdijk der öffentlich wirksamste deutschsprachige Philosoph der Gegenwart ist, kann man nicht bestreiten. Auch wenn das Philosophische Quartett keine Karten mehr legt, ist seine mediale Präsenz allgegenwärtig. Hinzu kommt mindestens eine Buchveröffentlichung pro Jahr. Das erste für 2012 - „Zeilen und Tage“ - liegt seit heute in den Buchläden. 640 Seiten ist es dick, für Sloterdijk ein eher bescheidener Umfang. Von seinen vielen anderen Printprodukten unterscheidet es sich deutlich, hat es doch kein übergreifendes Thema. Aus seinen fast täglich gefütterten Notizbüchern hat er das all zu Persönliche gestrichen, immerhin zwei Drittel des Umfangs, um den Rest als „datierte Notizen“ zu veröffentlichen. Doch auch den Zeitumfang hat er beschnitten – genau drei Jahre vom Mai 2008 bis zum Mai 2011 umfassen die Aufzeichnungen. Dabei soll es auch bleiben, auf eine kommentierte Gesamtausgabe müssen die Geisteswissenschaftler wohl bis nach seinem Tod warten.
Bringen diese Texte, die er bewusst nicht als Tagebücher bezeichnet wissen will, Aufklärung über den Menschen Peter Sloterdijk in einer Art, wie es seine Essays, Aufsätze, Vorträge nicht bieten können? Zum Teil. Wegen der Streichungen wird sein Privatleben nicht wirklich transparent. Und das ist gut so. Eigentlich hätte er auch noch die vielen Nennungen von Leuten beim Vornamen oder Kürzeln weglassen können. Wer braucht dieses Ratespiel? Andererseits ergibt sich doch ein Bild seiner Denk- und Arbeitsweise, die Herkunft mancher seiner Standpunkte wird partiell entschlüsselbar. Das kann überraschend sein. So finden sich gerade bei einer Reise in das sich auf dem Weg zur Diktatur befindliche Ungarn erste Aufzeichnungen zu seinem umstrittenen FAZ-Aufsatz über den kleptokratischen Staat der Zwangsbesteuerung, der durch eine freiwillige Abgabenkultur ersetzt werden solle.
Sloterdijk hat seine Aufzeichnungen redigiert. Das nimmt gelegentlich seltsame Formen an. Wenn er etwa am 20. Juni 2010 (!) über den unerwarteten politischen Frühling in Nordafrika schreibt, will er sich wohl zum Propheten erheben. Überwiegend dient die Bearbeitung aber der literarischen Verdichtung. Und man kann das Buch ruhig als schöngeistige Literatur betrachten. Sich dessen bewusst, flicht er eine Menge Aphorismen ein, die sich so wunderbar bei jedem beliebigen Anlass zitieren lassen. Dazwischen Berichte über Radtouren, viel häufiger aber über dienstliche Reisen, unter anderem zu den vielen Ehrungen, die er im In- und Ausland regelmäßig erhält, und über die er gern schreibt. Hauptthema aber sind Gedanken zu der umfangreichen Lektüre, die er verarbeitet. Ein festes System ist dabei nicht erkennbar, der Leseplan ist vielseitig.
Politisch scheint sich Sloterdijk überhaupt nicht festlegen zu wollen. Auch wenn das für Philosophen normal erscheint, verwundert es bei ihm, der sich doch immer wieder aktiv einmischt. Am intensivsten reibt er sich an den Linken, nicht unbedingt der Partei dieses Namens, eher an den westlichen Überlebenden der 68er-Bewegung. Andererseits hat er auch für die radikalen Moderne-Gegner, wie zum Beispiel die Pius-Brüder, überhaupt nichts übrig. Konservative kritisiert er gleichermaßen wie Grüne. Und wenn man glaubt, sein Engagement für staatliche und wirtschaftliche Deregulierung passe am besten zur FDP, dann kommt umgehend eine spöttische Bemerkung über diese. Der Vorteil dieses institutionell nicht greifbaren Politisierens ist, nie abgewählt werden zu können.
Sowenig er sich dem etablierten Parteiensystem andient (neuen Tenzenzen noch weniger, ohne die Piraten namentlich zu erwähnen, mokiert er sich permanent über das „Prinzip Umsonst“), so klar wird die soziologische Verankerung seines Denkens. Dies kommt in diesen beiläufigen Notizen viel deutlicher zum Ausdruck als in anderen Schriften. Er, der ohne Vater aufgewachsen ist, interessiert sich auffällig intensiv für „Bastarde“, macht eine ganze Theorie daraus. Er hat sich hochgearbeitet in den Olymp der „Leistungsträger“. Faulheit kann man ihm tatsächlich nicht vorwerfen, das Arbeitspensum ist enorm. Doch aus seinem so gewachsenen Horizont hält er alle Gutverdiener für Leute, die im Wesentlichen den gesellschaftlichen Reichtum produzieren. Und die sich im Lebensstil so wie er an den Höhen der Zivilisation erfreuen sollen, ohne dabei von diesem semi-sozialistischen Staat ständig bestohlen zu werden.
Im Zeitraum der veröffentlichten Notizen erschien Sarrazins Kampfschrift „Deutschland schafft sich ab“. Sloterdijk reflektiert kaum das Buch selbst, mehr die gesellschaftlichen Debatten darüber. Viel übrig hat er nicht für Sarrazin. So sehr sich der Schöngeist im Denkstil von diesem Buchhalter auch unterscheidet – ihr Anliegen ist das Gleiche. Beide wollen die Reste des Sozialstaates demontieren zugunsten eines gnadenlosen Leistungszwangs. Wer da nicht mithalten kann, ist eben selbst schuld, für die Bezieher von Nulleinkommen hat er nur Verachtung übrig. Recht weltfremd muss es dann aber erscheinen, wenn er die ausbrechende Weltfinanzkrise der falschen Zentralbankpolitik zuschreibt, eine Gier der privatwirtschaftlichen Finanzakteure als Ursache lehnt er dezidiert ab. Die Umwelt prägt Sichtweisen.
Ein großer Vorteil von „Zeilen und Tage“ ist, dass zumindest streckenweise sichtbar wird, wie Peter Sloterdijk zu seine Ideen und Ansichten kommt. Er hat es geschafft, ist nicht allein in die Kreise der weltweit bekannten Intellektuellen, sondern auch des gediegenen Mittelstandes aufgestiegen. Was sich darunter befindet, verhüllen die Morgennebel der Rheinauen um Karlsruhe.
Peter Sloterdijk
Zeilen und Tage - Notizen 2008-2011
Suhrkamp Berlin 2012
640 Seiten
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