Der Facebook-Bürgermeister

OB-Wahl Halle Der parteilose Überraschungskandidat wird Oberbürgermeister in Halle. Ein Aufbruch der etablierten Strukturen oder eine Wahl mit ungleichen Mitteln?

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Herr Dr. Wiegand ist neuer Oberbürgermeister in Halle. Glückwunsch an ihn. Mit 53 zu 47 % setzt er sich gegen Bernhard Bönisch durch. Aber es bleibt ein fader Beigeschmack in dreierlei Hinsicht. Zunächst war dies nun wirklich eine Qual der Wahl, denn überzeugende und motivierte Vorstellungen haben beide definitiv nicht abgeliefert. Dies ist wohl auch eine Ursache für Punkt zwei, die schockierende Wahlbeteiligung von nicht einmal einem Drittel der Wahlberechtigten. Das wiederum führt natürlich zu der Frage, in wie fern man hier überhaupt von Legitimation durch demokratische Mehrheitsfindung sprechen kann.

Werfen wir einen Blick zurück zum ersten Wahlgang am 1. Juli. Relativ deutlich gewinnt hier CDU- Mann Bönisch mit ca. 35 %, überraschender Zweiter wird der parteilose Wiegand mit knappen 20 %. Er setzt sich gegen den von der SPD aufgestellten Kai Senius durch, welcher mit 17 % enttäuschte. Auch hier eine Wahlbeteiligung von gerade einmal 35 %. Was passierte nun in zwei Wochen Wahlkampf, was war ausschlaggebend dafür, dass das Ergebnis aus dem ersten Wahlgang so deutlich auf den Kopf gestellt wurde?

Es gab Wahlempfehlungen anderer Lager für Herrn Wiegand, was sicher ein ausschlaggebender Grund für den Wahlausgang war, wenngleich sich die SPD hier zurückhielt. Nur die scheidende Oberbürgermeisterin Dagmar Szabados (SPD) bekannte sich zu Bönisch. In den Straßen war Bönisch natürlich wesentlich frequentierter vertreten, konnte er doch auf Ressourcen und Infrastruktur der CDU und der Jungen Union zurückgreifen. Allerdings darf bezweifelt werden, ob der Straßenwahlkampf wirklich eine relevante Anzahl neuer Wähler für die CDU und Bönisch gewinnen konnte. Viel wichtiger scheint hier die Internetpräsenz zu sein. Die Werbung für Herrn Wiegand, besonders auffällig bei facebook, hat hier Maße und Formen erreicht, die ein Wahlergebnis durchaus verzerren könnten.
Hier möchte ich besonders darauf hinweisen, dass sich unter den „supportern“ ein in Halle namhafter Nachtklub befand, der ca. 2.500 „Freunde" zählt. Auch weitere Privatprofile haben sich in vergleichbarer Art und Weise öffentlich bekannt. Das Ausmaß sei hiermit also grob gefasst. Meinungsbildend wird diese Unterstützungs-Aktion dadurch, dass sowohl Profilbild als auch Titelbild einen ausgefüllten Stimmzettel zeigten. Mit Kreuzchen bei Herrn Wiegand. Nun ist hinreichend bekannt, welches Potenzial facebook aufweist, um Meinungen oder Informationen zu verbreiten. Um dies am konkreten Fall zu verdeutlichen sei gesagt, dass schon einige Tage vor der Stichwahl, ebenfalls bei facebook, eine Veranstaltung mit dem Namen „Bernd Wiegand – Große Wahlsieg Party!!“ erstellt wurde. Es sind mehr als 1.500 User eingeladen, darunter auch Ich.

Ob derartige Unterstützung generell problematisch ist, kann natürlich nicht nur anhand des Beispiels Halle gezeigt werden. Es ist zum Beispiel in England gängige Praxis der großen Tageszeitungen, sich zu einem Kandidaten für das Ministerpräsidentenamt zu bekennen. Diese sprechen aber nach wie vor, besonders im Bezug auf die Altersstruktur, eine wesentlich heterogenere Masse an als facebook.

Besonders hinsichtlich des demographischen, altersstrukturellen Kontextes in Halle stellt sich die Frage, ob hier ein sehr einseitiges Wahlergebnis vorliegt, welches bestimmte soziale Gruppen dramatisch überrepräsentiert. So liegt es auf der Hand, dass Anhänger vom CDU-Mann Bönisch nur relativ schwer zu mobilisieren sind, handelt es sich doch hier eher um ältere Menschen. Facebook- Aktionen würden hier natürlich wenig Erfolg versprechend sein, was allerdings für eine Wahlempfehlung in einer Tageszeitung nicht zutreffen würde. Damit ließe sich ein Großteil des halleschen Wählerpotenzials erreichen.
Hier lässt sich also ein klarer Vorteil bzw. Nachteil für den jeweiligen Kandidaten ausmachen. Aufgrund der Sozial- und Altersstruktur in Halle ist diese Verzerrung umso problematischer. Junge Menschen, hauptsächlich Studenten, wählten mit hoher Wahrscheinlichkeit Herrn Wiegand. Diese Bevölkerungsgruppe zeichnet sich in Halle durch eine hohe Fluktuation aus, Studenten sind also nur kurzzeitig, bestenfalls für eine Legislaturperiode niedergelassen. Und dies ist durchaus optimistisch gedacht, zumal der Oberbürgermeister in Halle für sieben Jahre gewählt wird. Kann von dieser Gruppe nun erwartet werden, eine für die Stadt gute Wahl zu treffen? Oder geht es hier vielmehr um die Teilnahme an einer facebook- Aktion, als um eine themenorientierte und reflektierte Entscheidung?

Von 196.000 Wahlberechtigten gingen ca. 57.000 zur Wahl, was etwa 29 % entspricht. Die Martin- Luther- Universität Halle-Wittenberg zählt in Halle ungefähr 20.000 Studenten. Auch diese werden nicht alle an der Wahl teilgenommen haben, aber es verdeutlicht die Verhältnisse noch einmal.

Dieser Beitrag soll keineswegs ein Hinweis darauf sein, dass ich ein Unterstützer Bönischs bin, oder gar die Wahl als ungerecht darstellen. Natürlich muss auch gefragt werden, warum es anderen Kandidaten nicht gelungen ist, einen Großteil der Wahlberechtigten zu ermuntern, dieses Recht und Privileg der Wahl zu nutzen. Ein Indiz für insgesamt schwache Kandidaten einerseits, und Konzeptlosigkeit andererseits.

Ich möchte dieses überraschende Ergebnis nur aus einem anderen Licht beleuchten. Und diese Perspektive zeigt, dass nach wie vor dringend ein intensiver Diskurs zu führen ist, wie Wahlkampf und Wahlempfehlungen in Zukunft aussehen können. Bei derartig geringer Wahlbeteiligung gepaart mit schier unendlichen Möglichkeiten Meinungen, und im schlimmsten Fall extreme Ideologien, via Internet zu verbreiten, muss man sich nicht wundern, wenn in absehbarer Zeit auch extreme Parteien überraschende Wahlergebnisse einfahren.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

JMBecker

Man sollte immer ein gewisses Understatement wahren.

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