Am 20. Januar 1985 kam der 28-jährige ehemalige Student Johannes Thimme ums Leben, als ein Sprengsatz, den er in einem Stuttgarter Bürogebäude anbringen wollte, vorzeitig explodierte. Ziel des Anschlags war eine Niederlassung der Deutschen Forschungs- und Versuchsanstalt für Luft- und Raumfahrt, die allerdings bereits im November 1984 umgezogen war. Vier Tage später wurde Thimme auf dem Friedhof seiner Heimatstadt Ettlingen beigesetzt. Am Samstag darauf demonstrierten, wie die Süddeutsche Zeitung berichtete, im benachbarten Karlsruhe "2000 vorwiegend junge Menschen für die Zusammenlegung der Häftlinge der Roten-Armee-Fraktion (RAF)". Im Anschluss an den Protestmarsch besuchten etwa 200 Demonstranten Johannes Thimmes Grab. Mit einem Flugblatt, auf dem "Wir trauen um unseren Genossen Jonas (!) Thimme" zu lesen stand, hatte man zu dieser zweiten Kundgebung aufgerufen.
Der Tod des Johannes Thimme, eines "Mitläufers" (Butz Peters) aus der so genannten "2. RAF-Generation", ist nur eine traurige Fußnote der 30 Jahre währenden Geschichte des gewaltsamen Kampfes von Überzeugungstätern gegen den Staat Bundesrepublik Deutschland und seine politischen und wirtschaftlichen Repräsentanten. Aber er zeigt, vielleicht deutlicher als die oft erzählten Geschichten der RAF-Gründer Gudrun Ensslin, Andreas Baader und Ulrike Meinhof, die tragische Verblendung und auch die Dummheit des linken westdeutschen Terrorismus seit 1968. Jener Mensch, der beim Angriff auf einen längst verzogenen Gegner aus Unachtsamkeit stirbt, ist seinen trauernden Genossen noch nicht einmal so gut bekannt, dass sie seinen richtigen Namen wüssten. Wenn es wirklich einen "Mythos RAF" gibt, dann wäre diese Geschichte geeignet, ihn nachhaltig zu zerstören.
Dabei gehörte Johannes Thimme bereits seit seiner Schulzeit zu den Unterstützern oder, wie man damals sagte, "Sympathisanten" der RAF. Zweimal hatte er deswegen bereits Gefängnisstrafen verbüßt, zuletzt wegen "Werbung für eine terroristische Vereinigung". Was ihn dazu bewegte, zum "aktiven Widerstand" überzugehen und an jenem 20. Januar gemeinsam mit seiner Gefährtin Claudia Wannersdorfer einen Sprengsatz zu deponieren, lässt sich der bewegenden Biographie, die seine Mutter Ulrike Thimme über ihn verfasst hat, nicht eindeutig entnehmen. Allerdings ist die Autorin davon überzeugt, dass ihr Sohn "durch die drei Jahre und vier Monate im Gefängnis, größtenteils in Isolationshaft" so geprägt war, "dass ein Aufgeben im Kampf gegen die Unterdrückung durch den Staat kaum von ihm zu erwarten war".
Die Unterdrückung durch den Staat", diese Formulierung wäre in den siebziger und frühen achtziger Jahren wohl kaum jemandem aufgestoßen, der sich auch nur im weitesten Sinne zur Linken zählte. Vom "Radikalenerlass" über die "Anti-Terrorgesetze" bis zur Kriminalisierung von Atomkraftgegnern reichte die Palette der Maßnahmen, mit denen die immerhin sozial-liberale regierte Bundesrepublik versuchte, die Folgen von 1968 in den Griff zu bekommen. Und je drastischer der Staat agierte, um so gefährlicher konnten sich seine zumeist jugendlichen Gegner fühlen. In diesem Klima gediehen auch gewalttätige Gruppen wie die RAF oder die "Bewegung 2. Juni" vorzüglich. Dass die Bundesrepublik in unheilvoller Kontinuität zu Nazideutschland stand, galt schließlich nicht nur für militante Linke als ausgemacht.
Der Journalist Butz Peters schildert in seiner umfangreichen Geschichte der RAF mit dem Titel Tödlicher Irrtum den Auftritt des Schriftstellers Bernward Vesper beim Prozess gegen die Frankfurter Kaufhausbrandstifter 1968 folgendermaßen: "Bernward Vesper wird als Zeuge in den Saal gerufen. Gudrun Ensslins Ex-Verlobter. Er kommt in Cowboy-Stiefeln und mit einem Strauß roter Rosen, überreicht ihn der Angeklagten und küsst sie. Wir merken, dass Kriege stattfinden, an denen das deutsche Kapital beteiligt ist, erklärt der Zeuge ... Die Verbrechen in den Konzentrationslagern seien so ungeheuerlich, dass wir sie zu unseren Lebzeiten nie bewältigen würden. Auf Auschwitz folgte Vietnam. Und dort betrieben die USA Völkermord."
Die Strafe, die gegen Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Thorwald Proll und Horst Söhnlein in jenem Ur-RAF-Prozess verhängt wurde, fiel mit drei Jahren im Rückblick relativ milde aus, wurde aber von liberalen Medien scharf kritisiert. Für Schriftsteller wie Luise Rinser und Jean Amery waren die Brandstifter vergleichbar mit "Rebellen", "welche die Geschichte vorantrieben, indem sie Missstände aufzeigten und den Anstoß zu wichtigen Veränderungen gaben". Bernward Vesper, Sohn des berüchtigten nationalsozialistischen Autors Will Vesper, begriff das Urteil als Rache einer Generation, "die es 1938 unterlassen hat, aus Protest gegen den Faschismus die Warenhäuser anzuzünden". Wessen Warenhäuser 1938 tatsächlich brannten und wer sie angesteckt hat, fragte damals niemand. "Anstoß zu wichtigen Veränderungen" allerdings gaben Baader und Ensslin durchaus, nur in einem ganz anderen Sinne, als sich dies so mancher verständnisvolle Intellektuelle hätte träumen lassen.
"Die RAF wusste, dass es nur einen Weg gab, ihren Landsleuten zu zeigen, wie faschistisch ihre Regierung war - sie mussten die Faschisten durch Gewalt dazu bringen, sich als solche zu outen." Was hier Regan, Mitglied einer Gruppe selbst ernannter "Baader-Meinhof-Aficionados" auf dem Campus einer amerikanischen Elite-Universität einer erstaunten Kommilitonin zu erklären versucht, war nicht nur die praktizierte, sondern auch die erklärte Politik der RAF, auch wenn das Zitat fiktiv ist. (Es stammt aus dem satirischen Roman The Baader-Meinhof-Affair der New Yorker Künstlerin Erin Cosgrove, dessen deutsche Übersetzung demnächst im Münchener Blumenbar Verlag erscheint.) Mit wechselndem, aber glücklicherweise ohne dauerhaften Erfolg bemüht sich die bewaffnete Kampftruppe den Staat zur Suspendierung demokratischer Freiheitsrechte zu provozieren.
Ab 1972, als keiner der RAF-Gründer mehr auf freiem Fuß ist, tritt der Umgang mit den Gefangenen in den Mittelpunkt der Propaganda. Die Haftbedingungen werden zum Mobilisierungsinstrument. Die "2. Generation" der RAF rekrutiert sich zu einem großen Teil aus den "Komitees gegen die Isolationsfolter", die sich in vielen deutschen Städten gründen. Dass der "faschistische Staat" seine militantesten Gegner auch physisch vernichten will, daran besteht für viele radikale Linke kein Zweifel. Als Holger Meins am 9. November 1974 an den Folgen seines Hungerstreiks stirbt, wird er als Märtyrer ikonisiert. Während seiner Bestattung reckt Rudi Dutschke die Faust und ruft "Holger, der Kampf geht weiter", während auf Transparenten "Holger Meins von Staatsschutz und Justiz ermordet" zu lesen ist. Hier spielt sich jene propagandaträchtige Form der Legendenbildung ab, die sich nach den Selbsttötungen von Ulrike Meinhof 1976 und Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe 1977 wiederholen sollte.
Die Geschichte der RAF findet mit ihrer Selbstauflösung 1998 ein, vielleicht nur vorläufiges, Ende. Noch immer sind einige Aktivisten flüchtig. Über die "3. Generation" gibt es, wie Butz Peters konstatieren muss, kaum handfeste Informationen. Die Zeittafel in seinem Buch endet 1999 mit der Erschießung des mutmaßlichen RAF-Führungskaders Horst-Ludwig Meyer durch Polizisten in Wien.
Das öffentliche Interesse an der Geschichte des linken Terrorismus in Deutschland allerdings scheint kein Ende zu nehmen. Manchem werden Baader und Ensslin gar zu Pop-Ikonen und Meinhof zur bundesrepublikanischen Reinkarnation von Rosa Luxemburg. In bunten Interviewbändchen erzählen Veteranen des bewaffneten Kampfes wie Gabriele Rollnik mit bemerkenswerter Naivität, was für ein ausgeflippter und lustiger Verein die "Bewegung 2. Juni" doch war. Da wurden nämlich nicht nur Banken ausgeraubt und Politiker entführt, sondern auch gekifft und Rockmusik gehört. Noch immer klingt revolutionäres Pathos mit, wenn die Dortmunder Polizistentochter die Frage nach ihrer immerhin 15-jährigen Gefängnisstrafe so beantwortet: "Als ich angefangen habe zu kämpfen, war mir schon klar, entweder ich werde sterben oder werde ganz lange in den Knast kommen. ... Die Bedingungen waren extrem, ich habe aber etwas dagegen gemacht, dagegen gekämpft, und das hat mich aufrecht erhalten." Und so sei´s doch immer noch besser gewesen, als wenn sie ein Leben als Hausfrau mit zwei Kindern in Dortmund hätte führen müssen. Als ob das die Alternative gewesen wäre ...
Der hier zum Ausdruck kommende Affekt gegen das, was man gemeinhin für die typische kleinbürgerliche Existenz hielt, ist als Motiv kaum zu unterschätzen. Gabriele Rollnik sah die Welt mit anderen Augen, nachdem sie A.S. Neills Theorie und Praxis der anti-autoritären Erziehung gelesen hatte. Zwar ist es ein langer Weg von den Ideen des friedfertigen Summerhill-Gründers bis zu den gewaltsamen Aktionen einer selbst ernannten Stadtguerilla, aber nicht wenige sahen, durch die Lektüre Wilhelm Reichs bestärkt, in der repressiven Sexualmoral und den autoritären Strukturen der bürgerlichen Kleinfamilie eine der Wurzeln des Faschismus. Gerd Koenen, der mit Vesper, Ensslin, Baader eines der klügsten Bücher über die verschütteten Ursprünge des deutschen Terrorismus geschrieben hat, findet den Hass auf die spießige bundesrepublikanische Wiederaufbaugesellschaft am trefflichsten in einigen frühen Chansons Franz-Josef Degenhardts artikuliert. "Da frier´ ich vor Gemütlichkeit´, hieß es in "Kleinstadtsonntag", und dagegen half manchem eben nur die imaginierte Wärme des kämpfenden Kollektivs. Wie es tatsächlich innerhalb der militanten Gruppen zuging, davon vermitteln allein die erhaltenen Dokumente ihrer schriftlichen Kommunikation einen gruseligen Eindruck.
Überhaupt sollte, wer zur "Veteranensentimentalität" (Jan Philipp Reemtsma) neigt, ein wenig Quellenstudium betreiben. Empfehlenswert ist in dieser Hinsicht immer die von Hans Magnus Enzensberger gegründete Zeitschrift Kursbuch, einer wahren Zeitgeistbibel.
Es ist das Verdienst der unter dem Pseudonym Sophie Dannenberg schreibenden Journalistin Annegret Kunkel, in ihrem schrillen Anti-68er-Romanpamphlet Das bleiche Herz der Revolution auf das "Kursbuch" Nr. 17 vom Juni 1969 hingewiesen zu haben, in der die Bewohner der Kommune 2 (unter ihnen der spätere RAF-Mann Jan Carl Raspe) von ihren sexualpädagogischen Experimenten mit den in der Wohngemeinschaft lebenden Kindern erzählen. Leider vergibt die Autorin die Chance, die antiautoritäre Bewegung nachhaltig zu entmythologisieren. Was als kalauernde Satire beginnt, gerät zum hasserfüllten Vernichtungsschlag und macht es damit denen zu einfach, für die das Jahr 1968 den Beginn des zivilisatorischen Prozesses in der Bundesrepublik markiert. Ein mit missionarischem Furor verfasstes Buch beschert zwar ein bisschen Dampf im Feuilleton, wird aber genau deswegen die im Freund-Feind-Denken geübten Veteranen und ihre Apologeten kalt lassen.
Heilsamer ist es allemal, noch ein bisschen aus dem Kursbuch zu zitieren. Zum Beispiel aus der 1972 erschienenen Nr. 28. Dort wird mit großer Sympathie über "Therapie als gesellschaftliche Praxis" am Beispiel des "Sozialistischen Patientenkollektivs" des Dr. Wolfgang Huber berichtet. Das "Dossier" erschien ein Jahr nach dem letzten Flugblatt des "SPK", in dem sich Formulierungen wie "Unser Lebensraum ist der Volkskrieg" finden. Mehr ein Dutzend der sozialistischen Patienten, die davon träumten, aus ihrer psychischen Krankheit eine Waffe zu machen, landeten bei der RAF.
Butz Peters: Tödlicher Irrtum. Die Geschichte der RAF. Argon, Berlin 2004, 863 S., 24,90 EUR
Ulrike Thimme: Eine Bombe für die RAF. Das Leben und Sterben des Johannes Thimme von seiner Mutter erzählt. C. H. Beck. München 2004, 199 S., 17,90 EUR
Gabriele Rollnik/Daniel Dubbe: Keine Angst vor Niemand. Über die Siebziger, die Bewegung 2. Juni und die RAF. Edition Nautilus, Hamburg 2003., 128 S., 9,90 EUR
Thorwald Proll/Daniel Dubbe: Wir kamen vom anderen Stern. Über 1968, Andreas Baader und ein Kaufhaus. Hamburg 2003, 125 Seiten 9,90 EUR
Gerd Koenen: Vesper, Ensslin, Baader. Urszenen des deutschen Terrorismus.. Kiepenheuer Witsch. Köln 2003, 365 S., 22,90 EUR
Sophie Dannenberg: Das bleiche Herz der Revolution. Roman. DVA, München 2004, 308 S., 19,00 EUR
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