An eine Erweiterung seines Lyrikprogramms sei unter den gegenwärtigen Umständen nicht zu denken, deshalb müsse man eine Veröffentlichung ihrer Gedichte ablehnen. Das Schreiben des Verlags Hoffmann ist eindeutig. Ähnlich reagieren die Eremiten-Presse, der Residenz Verlag und andere Häuser. Die Gedichte der gelernten Fremdsprachenkorrespondentin Ingeborg Schlosser werden unveröffentlicht bleiben. Aber dafür kann man seit längerem ihre Briefe lesen, nämlich als Bestandteil eines gewaltigen epischen Projektes, dessen Ergebnis der Schriftsteller Gerhard Henschel im Herbst 2002 unter hymnischem Beifall kollegialer Literaturkritik vorlegte. Von einem der "rührendsten, artistischsten und intelligentesten Bücher", die er seit langem gelesen habe, schwärmte der Schriftsteller Stephan Wackwitz, ein "großartiges Buch", urteilte Fanny Müller in konkret, während der gewöhnlich äußerst scharfzüngige Stefan Maus ebenfalls zu Superlativen griff: "Das interessanteste, ergreifendste und formal radikalste Buch des letzten Jahres." Was hier im Stil des Zweitausendeins-Merkheftes zusammengefasst wird, lässt sich auf dem Umschlag zu Henschels neuem Buch lesen, in dem wir aus einer anderen Perspektive von der Familiengeschichte der Schlossers erfahren. Auf den Lebensroman der Eltern folgt der Kindheitsroman des Sohnes. Und einmal mehr stellt sich die Frage nach der Gattung.
Interessanterweise ist in den drei zitierten Rezensionsschnipseln zu Die Liebenden - so der Titel des ersten Werks - immer neutral von "Buch" die Rede, während der Autor wohl nicht ohne Absicht die Bezeichnung "Roman" wählte. Und das ist in gewissem Sinne auch berechtigt. Es gibt ein Ensemble aus Haupt- und Nebenfiguren und eine Handlung. Was fehlt, ist ein Erzähler.
Henschel hat ein Konvolut authentischer Briefe von Februar 1940 bis September 1993 leicht bearbeitet und so zusammengestellt, dass eine Geschichte daraus wird. Die Liebenden, das sind Richard und Ingeborg Schlosser, geborene Lüttjes. Sie lernen sich 1947 als Schüler des Mariengymnasiums in Jever kennen. Richard ist Kriegsheimkehrer und holt hier mühselig sein Abitur nach, während der zwei Jahre jüngeren Ingeborg das Lernen offenbar leicht fällt. Die beiden verlieben sich ineinander, überwinden bis zur Eheschließung manche Hürde, gründen eine Familie, müssen wieder mit Schicksalsschlägen fertig werden und haben sich gegen Ende der siebziger Jahre auseinandergelebt. Als Ingeborg Schlosser 1989 qualvoll an Krebs stirbt, existiert die Ehe nur noch auf dem Papier. Richard Schlosser, offenbar schon lange alkoholkrank, verkommt nach dem Tod seiner Frau immer mehr. 1993 ist auch sein Leben zu Ende. Eine alltägliche Tragödie. Liebe verwandelt sich in Hass, Hoffnung in Verzweiflung. Wie es dazu kommen konnte, lässt sich nach der Lektüre erahnen. Das zentrale Stück des Buches ist der fast tägliche Briefwechsel zwischen den beiden jungen Eheleuten gegen Ende der fünfziger Jahre, als Richard sich wegen einer akuten Tuberkulose-Erkrankung einem langwierigen Sanatoriumsaufenthalt unterziehen muss, während Ingeborg erst eins, dann zwei kleine Kinder zu versorgen hat. Die materiellen Sorgen sind groß, fast nichts scheint sich zum Positiven zu bewegen, und doch spricht immer wieder Hoffnung aus den Briefen.
Andererseits merkt man bei Richard bereits eine leichte Bitterkeit, die später ganz von ihm Besitz ergreifen soll. Hier wird der Leser vom Alltag der Schlossers beinahe erdrückt, so langsam bewegt sich die Handlung vorwärts. Dagegen geht es später in Riesenschritten dem Zerfall entgegen. Immer häufiger treten nun andere Briefpartner in den Vordergrund, während die schriftliche Kommunikation zwischen den beiden Hauptfiguren beinahe ganz zum Erliegen kommt. Das tragikomische Ende des Romans bildet das Schreiben, mit dem der jüngste Sohn Martin, hinter dem man den Autor selbst vermuten darf, die Firma Time-Life bittet, seinen verstorbenen Vater aus der Kundenkartei zu streichen.
Die Liebenden ist ein bemerkenswerter Versuch, Leben in Literatur zu verwandeln. Und es ist faszinierend zu beobachten, wie die Figuren im Laufe der Lektüre Gestalt annehmen, während jeder Brief der Handlung ein neues Mosaiksteinchen hinzufügt. Nicht selten tun sich dabei Lücken auf, die der Leser selbst füllen muss, und es mag manchen geben, der diese neu gewonnene Souveränität gern gegen die leitende Hand eines Erzählers eintauschen würde. Wer sich allerdings auf das Buch einlässt, wird - sobald er sich nicht mehr wie ein Schnüffler in fremder Leute Leben vorkommt - dem eigentümlichen Reiz dieser im wahrsten Sinne des Wortes dokumentarischen Literatur verfallen und sich anrühren lassen von der individuellen Tragik exemplarischer Alltäglichkeit.
Und nun der Kindheitsroman. Martin Schlosser, das Alter ego des Autors, erzählt aus dem Leben der Familie in den Jahren 1964 bis 1974, eine Zeitspanne, die in Die Liebenden nicht einmal 60 der über 700 Seiten umfasst. Die wichtigen Umbruchsjahre der Bonner Republik, vom Ende des Adenauerstaates über die Große Koalition bis hin zur sozial-liberalen Bundesregierung, sind für die Familie Schlosser eine Zeit materieller Konsolidierung und des gesellschaftlichen Aufstiegs in eine solide Mittelschichtposition. Weder die kurzfristige Erschütterung der bundesdeutschen Wirtschaft 1966/67, noch die kulturrevolutionären Umwälzungen der folgenden Jahre spielen eine große Rolle in den Briefen der Schlossers an die Verwandtschaft. Auch für den 1962 geborenen Martin gab es erheblich Wichtigeres als Vietnam-Demonstrationen, Dutschke-Reden oder die Reformeuphorie der Brandt-Regierung, und das meiste davon spielte sich in einem Zauberkasten ab, der seit den frühen sechziger Jahren die deutschen Wohnzimmer im Sturm eroberte. Martins Kindheit findet in einem nicht geringen Maße vor dem Fernseher statt. Natürlich wird noch viel draußen gespielt, wobei es neben Harmlosigkeiten wie einem trefflich imaginierten Detektivspiel auch mal zu einer kleineren Brandstiftung und zum Ladendiebstahl kommt. Doch der Einfluss des gerade seinen Kinderschuhen entwachsenen Unterhaltungsmediums ist dominierend. Weihnachtsvierteiler wie der legendäre Seewolf, die Augsburger Puppenkiste, amerikanische Krimis, die ZDF-Hitparade und nicht zuletzt die einschlägigen Werbespots sind in vielen der Momentaufnahmen, aus denen sich der Kindheitsroman zusammensetzt, so präsent, dass der Rezensent - immerhin vier Jahre älter als der Ich-Erzähler - während der Lektüre nicht selten im Nachhinein neidisch auf das laxe Fernsehregiment im Hause Schlosser war.
Dass ein solches Gefühl aufkommt, ist nun allerdings durchaus symptomatisch für dieses Buch. Während Die Liebenden aus weitgehend authentischen individuellen Dokumenten besteht, so dass die Protagonisten einen gewissen Grad an Fremdheit bewahren, appelliert der Kindheitsroman direkt an die kollektive Erinnerung. Die Bilder aus dem Familienalbum, mit dem die Innenseiten des Einbands illustriert sind, sind in ihren Motiven so zeittypisch wie verwechselbar. Wahrscheinlich hatten unzählige Mütter in den sechziger Jahren die Idee, ihre Kinder vor dem Auto, gemeinsam in der Badewanne oder bei der Weihnachtsbäckerei zu fotografieren.
Da nicht zu vermuten ist, dass Gerhard Henschel zwischen dem zweiten und dreizehnten Lebensjahr ein detailliertes Tagebuch geführt hat, wird er als Chronist der eigenen Kindheit wahrscheinlich immer dann, wenn die Erinnerung brüchig war, auf Aufzeichnungen anderer Familienmitglieder angewiesen gewesen sein. Andererseits reicht wahrscheinlich der Blick in eine alte Fernsehzeitschrift, um jenen Sonntag zu ermitteln, als nach dem letzten Teil von Lederstrumpf auch noch Big Valley kam, und sich an die stereotype mütterliche Ermahnung, nun hätten alle Kinder schon viereckige Augen, zu erinnern. Und dem Leser des Kindheitsromans geht es, so er denn der entsprechenden Altersgruppe angehört, ähnlich. Bis in ihre Details laden die geschilderten Begebenheiten dazu ein, ähnliche Situationen in der eigenen Erinnerung aufzusuchen und sich dem bitter-süßen Gefühl hinzugeben, dass die verloren geglaubte eigene Kindheit in einer Art kollektivem Archiv aufbewahrt ist.
Doch wie liest dieses, im Sinne des Wortes, bezaubernde Buch jemand, der nicht weiß, dass "Milch gegen Maroditis" hilft, dessen "Kindheitsroman" zu einer ganz anderen Zeit spielt? Wären in diesem Fall erklärende Fußnoten vonnöten, oder ist es womöglich ein ganz eigener Reiz, sich dieser Kindheit wie einer fremden Welt zu nähern? Schließlich hat die Art und Weise, wie der Autor familiäres und mediengeneriertes sprachliches Material zu Erzählstücken zusammenfügt, eine durchaus poetische Qualität. Soviel ist sicher: Wer die beiden großen Romane Gerhard Henschels liest, nimmt nicht nur an einem spannenden Erzählexperiment teil, sondern taucht tief ein in die Alltags- und Mentalitätsgeschichte der alten Bundesrepublik.
Gerhard Henschel: Die Liebenden. Roman. Hoffmann Campe, Hamburg 2002. 752 S., 25,90 E
Gerhard Henschel: Kindheitsroman. Hoffmann Campe, Hamburg 2004, 464 S., 22,90 E
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