Beharrliche Traditionen

Grossfamilie In "Die Inder. Porträt einer Gesellschaft" beschreiben Sudhir und Katharina Kakar die "indische Identität"

Das kleine Ladenlokal am Rande einer westfälischen Universitätsstadt hat schon so einige Ich-AG´s kommen und gehen sehen. Momentan prangt ein farbenprächtiges, exotisch anmutendes Schild über der fast blinden Schaufensterscheibe. Wer näher hinschaut, erkennt, dass hier der Freund indischer Celluloid-Dramen alles findet, was sein kitschverliebtes Herz begehrt. "Bollywood" ist Kult und deshalb auch gut für eine neue Einzelhandelshoffnung.

Fielen einem noch vor wenigen Jahren beim Stichwort "Indien" Mutter Teresa und die hungernden Kinder von Bombay (heute Mumbai), heilige Kühe und zwielichtige Gurus ein, so beherrschen heute neue Klischees das Bild. Neben China gilt das gewaltige Land, in dem eine Milliarde Menschen leben, als Gewinner der Globalisierung. Und dies offenbar nicht nur wegen seiner florierenden Software-Industrie. Als vor einiger Zeit ein indischer Konzern sich anschickte, ein europäisches Stahlunternehmen zu kaufen, gab es in den Wirtschaftsteilen der Zeitungen nur geringes Erstaunen. Erfolgreich ist auch der Kulturexport: Jede so genannte "Wellness-Oase" hat mittlerweile ayurvedische Behandlungsmethoden in ihrem Therapieangebot, und Bollywood-Filme gehören zum Standardprogramm privater Fernsehsender.

Dabei hat sich für die 55 Prozent der Einwohner Mumbais, die noch immer in Elendsvierteln ohne Kanalisation leben, nicht sehr viel geändert, wie der indische Publizist Vir Sanghvi kritisch in einem Essay anmerkt. Dennoch ist er optimistisch, nicht zuletzt deshalb, weil "wir aufgehört haben, uns als ein von korrupten Politikern regiertes Dritte-Welt-Land zu betrachten, das es nie schaffen wird". Warum genau es zu diesem Stimmungswandel kam, vermag Sanghvi allerdings nicht zu sagen.

Auch das indisch-deutsche Autorenpaar Sudhir und Katharina Kakar bleibt in seinem Buch Die Inder. Porträt einer Gesellschaft eine Antwort schuldig. Dies ist allerdings nicht verwunderlich, denn schließlich wird die entsprechende Frage gar nicht gestellt. Gesellschaftlicher Wandel wird schlicht als Faktum vorausgesetzt. "Indische Zivilisation hat sich durch Prozesse der Assimilierung, Transformation, Neubehauptung und Neuschöpfung in der Begegnung mit anderen Zivilisationen und kulturellen Kräften ständig erneuert ... Die gegenwärtig stattfindende Globalisierung ist nur das letzte Glied in der Kette stärkender kultureller Begegnungen, die lediglich aus einer engen Perspektive als ‚Zusammenstoß der Kulturen´ bezeichnet werden kann", heißt es in der Einleitung. Weniger die Dynamik sozialer Entwicklung zu analysieren, ist das Ziel dieses Buches, als vielmehr etwas zu ergründen, was die Autoren als "indische Identität" bezeichnen.

Nun ist den Kakars durchaus bewusst, dass es abenteuerlich anmutet, für die Bevölkerung eines Landes mit vierzehn Hauptsprachen, mehreren Religionen und sehr unterschiedlichen Regionen eine gemeinsame Identität zu konstruieren. Zumal diese Bevölkerung "nicht nur durch soziale Klassen, sondern auch durch das für Indien charakteristische Kastenwesen getrennt" ist. Wenn die Autoren also dennoch von der Vorstellung eines "Indisch-Seins" ausgehen, so vollziehen sie in gewissem Maße den fremden Blick ausländischer Beobachter nach. "Die Reiseliteratur", so Sudhir Kakar in einem Interview, "hat immer solche kollektiven Identitäten erkundet. Vom Gegenpol Europa aus wird erkennbar: Es gibt die Inder. Von Indien aus gesehen, gibt es bei aller Vielfalt die Europäer".

Also legen der indische Psychoanalytiker und die deutsche Religionswissenschaftlerin den "Inder" auf die Couch, um den "kulturellen Teil seiner Psyche" zu ergründen. Und das Ergebnis ist sehr aufschlussreich. Trotz aller Tendenzen zur Individualisierung, die vor allem in den Großstädten als Auswirkung der Globalisierung auftreten, ist die Großfamilie die bevorzugte Form des Zusammenlebens. Brüder trennen sich auch dann ungern, wenn sie geheiratet haben. Statt einen eigenen Hausstand zu gründen, bringen sie ihre Ehefrauen mit ins Elternhaus. Zur erweiterten Großfamilie gehören auch entfernte alleinstehende Verwandte, für deren Wohlergehen zu sorgen, man sich verpflichtet fühlt. Die Familienhierarchie wirkt sich auch gesellschaftlich aus. Die "Autoritätsverhältnisse innerhalb der indischen Familie", vermuten Sudhir und Katharina Kakar, werden zu einer "Schablone für den reibungslosen Ablauf in den meisten modernen gewerblichen, bildenden, politischen und wissenschaftlichen Organisationen". Vielleicht verbirgt sich hier ja auch eine Erklärung für den Erfolg indischer Unternehmen, da sich "die Organisation und ihre Führungsebene durch einen höheren Grad an Loyalität, Engagement und Zufriedenheit" auszeichne. Die Probleme, welche die hierarchieorientierten Inder offenbar mit Teamarbeit oder kritischem Feedback haben, werden allerdings im gleichen Kapitel als Ursache innerbetrieblicher Schwierigkeiten vermerkt. Damit ist das wirtschaftliche Interesse der Autoren aber auch schon erschöpft. Für die ökonomischen Kategorien, mit denen marxistische Historiker den andauernden Konflikt zwischen Hindus und Muslimen zu erklären suchen, haben sie in einem späteren Kapitel nur milden Spott übrig.

Sudhir und Katharina Kakar argumentieren lieber mit einem "kulturellen Gedächtnis", das die Gesellschaftssicht des Individuums entscheidend präge. So spielen offenbar die uralten Legenden und Geschichten, mit denen indische Kinder aufwachsen, eine entscheidende Rolle bei der Vermittlung jener Reinheitsvorstellungen, die zu den psychologischen Ursachen des Kastenwesens gehören.

Weniger erfolgreich scheint das kulturelle Gedächtnis allerdings in Hinsicht auf die indische Sexualmoral zu sein. Zumindest erweist es sich hier als ausgesprochen selektiv. Denn der im berühmten Kamasutra aus dem 3. Jahrhundert propagierte lustvolle Umgang mit der Sexualität - Sudhir Kakar ist ein ausgewiesener Experte für dieses klassische Werk - ist einer umfassenden Verklemmtheit gewichen. Dass für diesen Wandel die muslimische Herrschaft im Mittelalter verantwortlich sei oder vielleicht sogar die restriktiven Moralvorstellungen der britischen Kolonialherren im 19. Jahrhundert, bezweifeln die Autoren. Für wahrscheinlicher halten sie, dass sich eine ebenso alte asketische Tradition der Hindu-Kultur letztendlich als durchsetzungsfähiger erwiesen hat Hier bestehen Berührungspunkte mit dem Körperbild, das den indischen Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit zu Grunde liegt und damit auch die Basis der ayurvedischen Medizin bilden, der ein umfangreiches Kapitel des Buches gewidmet ist.

Das Porträt, welches Sudhir und Katharina Kakar von der indischen Gesellschaft entwerfen, ist ein relativ statisches. Dieser Eindruck ist sicherlich auch ihrem Anliegen geschuldet, Konstanten der kollektiven indischen Psyche aufzuzeigen. So entsteht der Eindruck, dass der Modernisierungsschub beachtliche Teile der Bevölkerung bislang nicht ergriffen hat und sich selbst da, wo er sich oberflächlich wirkungsmächtig zeigt, an tradierten Strukturen wenig ändert. Leidtragende dieser Beharrlichkeit sind, daran lässt das Buch keinen Zweifel, vor allem die Frauen und Mädchen der unteren Gesellschaftsschichten. Es überrascht also nicht, wenn Katharina Kakar auf die Frage, unter welchen Umständen sie heute gerne als indisches Mädchen zur Welt kommen würde, antwortet: "In der städtischen Oberschicht. Dann würde ich Pilotin oder Mathematikerin werden, denn diese weibliche Freiheit lässt die indische Gesellschaft ja eher zu als etwa die deutsche."

Sudhir und Katharina Kakar: Die Inder. Porträt einer Gesellschaft. C.H.Beck, München 2006., 206 S., 19,90 EUR


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