Bilse & Biller

linksbündig Gerichte sollten sich aus Kunstfragen heraushalten

Im Jahre 1903 musste sich ein Leutnant namens Fritz Oswald Bilse vor einem Kriegsgericht verantworten. Er hatte die Zustände in der tatsächlich existierenden Garnison Forsbach kaum verschlüsselt in einem Roman beschrieben.

Der unglückliche Autor und sein Werk wären ebenso vergessen wie die Bezeichnung "Bilse-Roman" für Schlüsselromane, hätte sie nicht ein größerer Meister in die Literaturgeschichte überführt. "Wenn man alle Bücher", schrieb dieser drei Jahre nach dem Skandal, "in denen ein Dichter, ohne von anderen als künstlerischen Rücksichten geleitet worden zu sein, lebende Personen seiner Bekanntschaft porträtiert hat, auf den Namen Leutnant Bilses taufen wollte, so müsste man ganze Bibliotheken der Weltliteratur unter diesem Namen versammeln, darunter die allerunsterblichsten."

Der hier ohne falsche Bescheidenheit Dichtung von Weltgeltung herbeizitiert, spricht in eigener Sache. Vier Jahre nach Erscheinen seines ersten Romans Buddenbrooks sah sich Thomas Mann genötigt, gegen den Vorwurf, sein monumentales und nicht immer schmeichelhaftes Porträt einer Lübecker Kaufmannsfamilie sei nichts als ein "Bilse-Roman", anzutreten. Er tat dies mit dem Essay Bilse und ich, einer Kampfschrift für die Freiheit des Autors, die mit der Aufforderung an das Lesepublikum, die Suche nach Schlüsselstellen gefälligst zu unterlassen, endet: "Sagt nicht immer: Das bin ich, das ist jener. (...) Stört nicht mit Klatsch und Tratsch seine Freiheit, die allein ihn befähigt, zu tun, was ihr liebt und lobt, und ohne die er ein unnützer Knecht wäre."

Thomas Mann hatte Glück: Keines der von ihm verwendeten realen Vorbilder fiktiver Figuren, darunter immerhin Gerhart Hauptmann und Theodor W. Adorno, zog erfolgreich vor Gericht, um das entsprechende Werk verändern oder ganz aus der Welt schaffen zu lassen. Das ist leider nicht die Regel. Man erinnere sich an das jahrelange Verbot von Klaus Manns Mephisto. Oder an den weniger bekannten Fall des Filmemachers Ulrich Schamoni, dessen in jugendlichem Zorn verfasster Roman Dein Sohn lässt grüßen einige Bürgern seiner Heimatstadt Münster ein solcher Dorn im Auge war, dass sie ihn flugs aus dem Verkehr ziehen ließen. Aber das war in den frühen sechziger Jahren, als die großen Prozesse gegen vermeintlich pornographische Werke der Weltliteratur noch jüngste Vergangenheit waren.

Wenn also im Jahre 2003 Romane vor Gericht geschleift werden, weil sich wirkliche Menschen in ihnen wiederzufinden und damit in ihren Persönlichkeitsrechten verletzt meinen, fühlt sich der gewöhnliche Leser zunächst wie auf einer seltsamen Zeitreise. Doch die Realität holt ihn schnell ein. Maxim Billers Roman Esra ist tatsächlich vom Landgericht München I verboten worden, und wenn das Urteil Schule machen sollte, sieht es für Alban Nicolai Herbsts Meere, gegen das die ehemalige Lebensgefährtin des Autors eine einstweilige Verfügung erwirkt hat, schlecht aus.

Wohlgemerkt, ich habe keines der beiden Bücher gelesen und kann mir deshalb kein Urteil über ihren künstlerischen Wert oder Unwert erlauben. Vermutlich würde mich Billers zweiter Roman ähnlich langweilen wie sein erster, den ich nach 100 Seiten zuklappte und ins moderne Antiquariat trug. Und dass jemand, der sich in einem solchen Buch wiedererkennt, entrüstet sein darf, muss nicht diskutiert werden. Sogar die Entscheidung, juristisch gegen den Autor und sein Werk vorzugehen, ist nachvollziehbar. Dass aber ein Gericht sich für zuständig hält, wenn es darum geht, ob ein fiktionaler Text veröffentlichungsfähig ist oder nicht, scheint einigermaßen absurd und ist keine geringe Gefahr für die ansonsten gerne beschworene Freiheit der Kunst.

Nun ist aber offenbar gerade das Landgericht München I dabei, literarische Kategorien neu zu definieren. Vor kurzem gab es dem früheren März-Verleger Jörg Schröder recht, der von der Verwertungsgesellschaft Wort verklagt worden war. Schröder hatte seine mittlerweile auf etliche Bände angewachsenen (und sehr lesenswerten) autobiographischen Erzählungen, die in geringer Auflage ausschließlich an Abonnenten gehen, als wissenschaftliche Werke deklariert und die entsprechende Pauschalvergütung erhalten. Die VG Wort war der Ansicht, dass Autobiographien immer auch Fiktion enthielten. Dem mochte sich das Gericht nicht anschließen und entschied zugunsten des Autors. Schröder sei es zu gönnen. Doch wen es nicht stutzig macht, dass die Frage "Belletristik oder nicht" anhand des Kriteriums entschieden wird, ob "tatsächlich Geschehenes" wiedergegeben werde, sollte seine Lektüre in Zukunft auf Fantasy- und Science-Fiction-Romane beschränken.

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