Bündnis gegen die Dekadenz

Russophilie In seiner Untersuchung "Der Russland-Komplex - Die Deutschen und der Osten" untersucht Gerd Koenen die Russland-Begeisterung der Deutschen

Als Martin Walser im November 1998, kurz nach seiner heftig umstrittenen Rede in der Frankfurter Paulskirche, in der Universität Duisburg auftrat, sah er sich mit den wütenden Protesten studentischer Gruppen konfrontiert, die dem Schriftsteller vorwarfen, schon seit langer Zeit rechtsextremistisches und antisemitisches Gedankengut zu hegen. Bereits 1981 habe er öffentlich Verständnis für die Nazi-Ikone Albert Schlageter geäußert, womit seine faschistischen Tendenzen bewiesen seien, hieß es in der erregten Diskussion, worauf der mittlerweile ziemlich wütende Walser retournierte, dass immerhin Karl Radek im Namen der Kommunistischen Internationale gegen die Hinrichtung des nationalistischen Saboteurs durch die französischen Besatzungstruppen am 26. Mai 1923 protestiert hatte. Viel Eindruck konnte er damit nicht machen; zu festgefügt war in den Köpfen der selbsternannten Antifaschisten das Bild des Intellektuellen als Verharmloser nationalsozialistischer Verbrechen, als dass sie Walsers historischem Exkurs hätten folgen wollen.

Dabei ist die "Schlageter-Rede", die Radek im Juni 1923 auf einer Konferenz des Exekutivkomitees der KomIntern über den "Kampf gegen den Faschismus" hielt, in ihrer inhaltlichen Ausrichtung eines der interessantesten Beispiele für das komplexe Verhältnis zwischen "Linken" und "Rechten" zur Zeit der Weimarer Republik. Karl Radek, der weithin berühmte Organisator der KPD, nannte den katholischen Freikorpsmann einen "Märtyrer des deutschen Nationalismus" und "einen mutigen Soldaten der Konterrevolution", der es verdiene "von uns Soldaten der Revolution männlich, ehrlich gewürdigt zu werden". Dass die Vereinnahmung Schlageters durch die Nazis letztendlich die erfolgreichere war, zeigt im Grunde nur, wie problematisch das Werben der sowjetisch gesteuerten Kommunistischen Partei um die der nationalistischen Rechten zuneigenden, wie man gerne sagte, "proletarisierten kleinbürgerlichen Massen" war.

Von solchen Zusammenhängen und Verwerfungen zu wissen, kann von heutigen linken Studierenden wohl noch viel weniger erwartet werden als von ihren Vorgängern 1968 ff., die "sich noch einmal aus dem Fundus der Revolutionstheorien und Traditionen eines imaginären proletarischen ›Ostens‹ als dem historischen Gegenpart zum kapitalistischen ›Westen‹ bedienten" und damit unbewusst "in die Fußstapfen älterer, ihnen kaum noch präsenter deutscher Traditionen traten", wie Gerd Koenen im letzten Kapitel seiner groß angelegten Studie Der Russland-Komplex feststellt. Dass gleichzeitig heftige Kritik an der kollektiven Amnesie der Elterngeneration geübt wurde, steht zu dieser Feststellung in keinem Widerspruch. Befördert wurde das Vergessen durch die veränderte geopolitische Lage nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der totalen Niederlage Nazi-Deutschlands. "Die nun im Zuge neuer, heißer und kalter Kriege und Bürgerkriege formierten antagonistischen ›Blöcke‹ und ›Systeme‹ und die ihnen zugeschriebenen ›Ismen‹ wie Kapitalismus und Faschismus, Kommunismus und Totalitarismus wirkten über vier Jahrzehnte hinweg als machtvolles Instrument der Einebnung und Überformung aller älteren historischen Erinnerungen."

Gerd Koenen, Jahrgang 1944, der, wie er selbst sagt, in den sechziger und siebziger Jahren das volle Programm des linksradikalen Aktivismus vom SDS bis zum Kommunistischen Bund Westdeutschlands mitgemacht hat, ist in den letzten Jahren mit Büchern über die studentische Revolte und ihre Folgen hervorgetreten, vor allem durch seine Studie zur Vorgeschichte der RAF Vesper, Ensslin, Baader. Darüber ließ sich beinahe vergessen, dass der Autor eigentlich ein ausgewiesener Kenner der osteuropäischen Geschichte ist, aus dessen jahrelanger Zusammenarbeit mit Lew Kopelew unter anderem 1998 der Sammelband Deutschland und die russische Revolution erwuchs.

Das nun vorliegende Buch Die Deutschen und der Osten 1900 - 1945 basiert auf einer akademischen Arbeit mit dem Titel Moskau oder Rom an der Universität Tübingen. "Moskau oder Rom", das war die Formel, mit der der Schriftsteller und Journalist Alfons Paquet 1920 die Frage nach der zukünftigen politischen und kulturellen Orientierung Deutschlands auf den Punkt brachte. Paquet, dessen Werk und Biographie so etwas wie den roten Faden in Koenens Darstellung bilden, gehört zu den frühesten Berichterstattern aus dem bolschewistischen Russland. Bereits 1903 hatte es den damals 22-Jährigen gen Osten gezogen; mit dem Zug fuhr der Student aus Heidelberg nach Sibirien und in die Manschurei, übrigens ohne, wie Koenen betont, "ein Wort Russisch zu sprechen".

Zurück in Deutschland verfasste Paquet, der während seiner Reise bereits Berichte für deutsche Zeitungen geliefert hatte, eine Denkschrift zu Händen des Reichskanzlers, in der er die Richtlinien einer deutschen Außenpolitik nach seinen Vorstellungen skizzierte. Und die habe sich, davon war er überzeugt, gen Osten zu richten. Die romantisch-imperialistischen Vorstellungen des jungen Globetrotters kulminierten einige Jahre später in der Idee einer "Verwirklichung der europäischen Idee auf dem Wege des Einvernehmens mit den benachbarten Völkern des Slawentums und mit Frankreich": "Ein slawische Staatengruppe unter einem habsburgischen Herrscher, der freie Weg nach Vorderasien: das wäre der Weg des größeren Reiches."

Aber der erste große Krieg des 20. Jahrhunderts geht anders aus. Die Annäherung an Russland steht im Zeichen der bolschewistischen Oktoberrevolution, die von deutscher Seite mit etlichen Millionen Mark gefördert wird. Und Paquet macht sich auf den Weg. Im Frühsommer 1918 sitzt er im Zug nach Moskau, im Gepäck einen futuristischen Plan zur "Reform Russlands". Sein Gesprächspartner unter den Bolschewiki ist Karl Radek, der in seinem Notizbuch als "proletarischer jüdischer Napoleon" firmiert, geeignet als Führer eines vom anglo-amerikanischen Einfluss "befreiten Europa". Paquet ist gleichermaßen fasziniert wie schockiert vom postrevolutionären Russland; er registriert, dass das alte prachtvolle Moskau, das er vor dem Krieg kannte, eine zerstörte Stadt ist, in der "klägliche Männer Gurken und Äpfel an Straßenecken" verkaufen und revolutionäre Soldaten, "deren Gewehre wie aus einem Nadelkissen herausragen", auf offenen Lastwagen durch die öden Straßen gefahren werden. "Aber", so fragt er enthusiasmiert, "ist Moskau jemals so schön gewesen wie in dieser Verwilderung?" Paquet bewundert die Entschlossenheit, mit der die Bolschewiki die Gesellschaft umkrempeln, auch wenn das gute Neue sich oft nur im Auge des Betrachters findet. Zwar protestiert er gegen den Terror, dessen Zeuge er ebenfalls wird, doch seiner Hochachtung vor den revolutionären Führern von Lenin über Trotzki bis Radek tut das wenig Abbruch. Spätere westliche Russland-Reisende, haben übrigens gar keine Probleme mehr damit, die gewalttätigen Exzesse der bolschewistischen Herrscher als "Ausweis moralischer Überlegenheit und Größe" zu deklarieren.

Am Beispiel Alfons Paquet zeigt Koenen die Vielschichtigkeit des deutschen Verhältnisses zum revolutionären Russland, das sich durch eine komplizierte Gemengelage von intellektuellen, wirtschaftlichen und politischen Interessen auszeichnet. 1918 kommt Karl Radek im Geheimauftrag nach Berlin, um die deutsche KP aufzubauen. Nach der Niederschlagung des Spartakus-Aufstandes sitzt er 1919 als Staatsgefangener im Gefängnis Moabit und empfängt in seiner Zelle die Elite der deutschen Wirtschaft und Politik. Hier wird die Grundlage für eine gemeinsame Politik Russlands und Deutschlands gegenüber den Siegermächten des Weltkriegs angebahnt. Ideologische Differenzen spielen dabei kaum eine Rolle, zu den Besuchern Radeks zählen auch Vertreter jener Offiziers-Verschwörung, die wenig später zum Kapp-Putsch gegen die junge Weimarer Republik führt. Die Bewunderung, die anti-westliche deutsche Demokratiefeinde von rechts und führende Vertreter der Bolschewiki einander entgegenbringen, geht über pragmatische Erwägungen, wie sie bei der geheimen Aufrüstung der Schwarzen Reichswehr auf sowjetischem Territorium eine Rolle gespielt haben mögen, hinaus. Für den Mussolini-Bewunderer Ernst Stadtler beispielsweise, einen der führenden anti-bolschewistischen Propagandisten der Weimarer Republik, ist Sowjetrussland ein natürlicher Bündnispartner im Kampf gegen die vermeintliche Dekadenz des Westens. Überhaupt scheint, das belegen Koenens Fundstücke immer wieder, das gemeinsame Feindbild der bürgerlich-liberalen kapitalistischen Demokratie eine größere Rolle zu spielen als ideologisch divergierende Grundpositionen.

Die zwiespältige Bewunderung für die Protagonisten der Oktoberrevolution speiste sich nicht zuletzt aus einer übertriebenen Russophilie, die im Dostojewski-Kult des frühen 20. Jahrhunderts ihren Ausdruck fand. Koenen widmet diesem seltsamen Kapitel deutscher Geistesgeschichte eine aufschlussreiche Darstellung, die zeigt, wie stark die Klischeevorstellungen der "tiefen russischen Seele" (und ihrer Verwandtschaft mit der nicht minder tiefen deutschen) von einer quasi-religiösen Lektüre Dostojewskis herrührten. So unterschiedliche Temperamente wie Ernst Bloch, Johannes R. Becher, Georg Lukacs und Oswald Spengler erweisen sich - Koenen hat ein Händchen für bizarre Zitate - als entsprechend infiziert.

Ein letztes Mal wird die ideologieübergreifende Gemeinsamkeit Deutschlands und der Sowjetunion in der Folge des Hitler-Stalin-Paktes beschworen und Koenen hält es keineswegs "für einen britischen oder polnischen Spleen", in dem unerklärten Kriegsbündnis der beiden Staaten vom August/September 1939 "die Erfüllung einer lang angelegten Tendenz der Geschichte beider Länder zu sehen". Der Überfall auf die Sowjetunion 1941 wird somit als Beginn eines Raubfeldzugs gedeutet, dem die entsprechende anti-bolschewistische Propaganda erst nachträglich folgte. Das Ende ist bekannt.

Es sollte lange dauern, bis wieder ein sowjetischer Staatschef, jenseits der moskautreuen Linken, Begeisterung in Deutschland weckte. In der "Gorbymanie", die Mitte der achtziger Jahre nach dem Amtsantritt Michail Gorbatschows die Deutschen ergriff, sieht Gerd Koenen ein "letztes fernes Echo des einstigen ›Russland-Komplexes‹". Ebenso wie der "Osten" sei nun auch der "Westen" dabei, sich aufzulösen.

Ob man dieses Fazit und auch manch andere These des Autors teilen mag, sei dahingestellt. So ließe sich fragen, warum der "prononcierte ›Antibolschewismus‹", der den Russlandfeldzug propagandistisch begleitete, nicht mehr als ein "Vorwand" gewesen sein soll, während die "Splitter, Fragmente, Aperçus", so Koenen selbst, aus der intellektuellen Diskussion der Weimarer Republik beinahe Beweischarakter haben. Wie so oft in ideologie- und mentalitätsgeschichtlichen Rekonstruktionen der Fall, wird sich der Einfluss des "Russland-Komplexes" auf die tatsächliche Politik nur schwer genau qualifizieren lassen. Lesenswert aber ist diese ebenso material- wie kenntnisreiche und häufig verblüffende Darstellung der Geschichte der "deutschen Ostorientierung" unbedingt, nicht zuletzt für diejenigen, die vor nicht allzu langer Zeit in dem zu Beginn erwähnten "imaginären proletarischen ›Osten‹" ihre geistige (und politische) Heimat suchten.

Gerd Koenen: Der Russland-Komplex. Die Deutschen und der Osten 1900 - 1945.
576 S., 53 Abbildungen. C. H. Beck, München 2005, 29,90 EUR


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