"And my brother´s back at home / With his Beatles and his Stones/ We never got it off on that revolution stuff". David Bowies Glam-Rock-Hymne All the Young Dudes von 1972 hatte eine klare Ansage: Ihr seid zu alt. Zwar gab es die Beatles seit zwei Jahren nicht mehr, aber die Rolling Stones hatten immerhin gerade mit ihrem unter großen Problemen eingespielten Doppelalbum Exile on Main Street einen richtigen Klassiker auf den Markt gebracht. Und das war eben Musik für den großen Bruder, der geistig noch in den sechziger Jahren steckte und über Bands wie T. Rex nur müde lächeln konnte.
Wir hatten nie viel für diesen Revolutionskram übrig: Bowie lässt eine neue Generation zu Wort kommen, Jugendliche, denen die Protestpose der Älteren auf die Nerven ging und die lieber durch ausgefallene Klamotten beeindruckten als durch gesellschaftskritische Analysen. Manche Phrasen bleiben allerdings gleich. Sangen The Who 1965 "hope I die before I get old" (My Generation), so heißt es gleich in der ersten Strophe von All the Young Dudes: "Don´t wanna stay alive when you´re 25". Bowie, der dieses Alter gerade erreicht hatte, als der Song in der Version von Mott the Hoople die Hitparaden stürmte, scheint durchaus Sinn für Ironie besessen zu haben.
Aber dennoch: Rockmusik - das dürfte man sich eigentlich, obwohl es so selbstverständlich klingt, heute nur noch sehr schwer vorstellen können - galt einst als integraler Bestandteil der Jugendkultur. Endgültig Schluss damit war erst zu Beginn der achtziger Jahre, nachdem Punk ihr zu einer letzten großartigen Angstblüte verholfen hatte. Was um 1975 in New York mit Bands wie den Ramones oder New York Dolls angefangen hatte, galt ein Jahr später in London als das große neue Ding. Plötzlich tauchten überall Rockgruppen mit den seltsamen Namen und den komischen Stachelfrisuren auf. Die Musik war roh, einfach und vor allem laut. Und jeder konnte dabei sein, dafür sorgten die berühmten drei Akkorde. Genauer gesagt, jeder, der jung genug war.
Denn Punk hatte alles, was eine zünftige Jugendrevolte brauchte. Einen hohen Wiedererkennungswert für Gleichgesinnte und einen mindestens ebenso hohen Gruselfaktor für Außenstehende. Das waren in diesem Fall eben nicht nur ordnungsliebende Kleinbürger, sondern auch die langhaarigen Fans der, so will es die Fama, in öder Routine erstarrten Saurier des Rock, von den Rolling Stones bis zu Pink Floyd.
Wer das verstehen wollte, musste selbst jung sein. So dachte zumindest die Redaktion des New Musical Express, damals die führende Wochenzeitung für populäre Musik in Großbritannien. So kam es zu jener mittlerweile berühmten Stellenanzeige, mit der "junge hippe Revolverhelden" gesucht wurden, um dem Blatt frisches Blut zuzuführen. Unter anderem bewarben sich Julie Burchill (17) und Tony Parsons (22). Sie bekamen den Job. Und erschrieben sich innerhalb kurzer Zeit eine Spitzenposition im britischen Rockjournalismus. "Sehr viel Ahnung von Musik hatten sie nicht", meint rückblickend der Gegenkultur-Chronist Barry Miles, der damals auch für den NME arbeitete, "und sie waren jünger als alle anderen in der Redaktion". Genau das wird es gewesen sein. Um dem Punk-Phänomen gerecht zu werden, kam es mehr auf das richtige Gefühl an als auf enzyklopädische Kenntnisse der Geschichte des Rock´n´Roll.
Heute ist Tony Parsons Anfang 50 und ein erfolgreicher Kolumnist und Autor. Seine Romane handeln von Familie, Liebe und Sex, eben das, worüber er auch nach seinem Ausstieg beim NME für Frauenzeitschriften geschrieben hatte, und verkaufen sich millionenfach. "Worüber hätte ich sonst schreiben sollen?", rechtfertigte sich der ehemalige Punk-Chronist in einem Interview mit dem Guardian. "Über harte Jungs, Spione oder Anwälte? Davon hatte ich doch überhaupt keine Ahnung. Worüber ich allerdings etwas wusste, das waren Familien, Liebe und Sex."
Auch in dem Roman, den Parsons nun, mehr als ein Vierteljahrhundert später, über seine Zeit als Rockjournalist vorlegt, geht es im Grunde um diese Themen. Schließlich sind seine drei Hauptfiguren, Leon, Ray und Terry sehr junge Männer, die sich noch nicht von ihren Familien gelöst haben. Sie arbeiten zwar für eine angesagte Musikzeitung, touren mit heißen Bands durch Britannien und Europa und nehmen jede Menge Drogen, doch von ihren Familien sind sie allesamt noch nicht losgekommen, im Gegenteil. Der linke Aktivist Leon versucht krampfhaft, sich von seinem erfolgreichen Journalistenvater zu distanzieren. Ray, ein nachgeborener Hippie, der sich schon als 15-Jähriger mit einem handgeschriebenen Artikel über die Eagles als Mitarbeiter beworben hatte, wohnt sogar noch bei seinen Eltern, wo er sich ein Zimmer mit seinem kleinen Bruder teilen muss. Und Terry, die Figur, die dem Autor am ähnlichsten ist, schämt sich seiner Herkunft aus der Arbeiterklasse, als er seine, wie er glaubt, Mittelschicht-Freundin den Eltern vorstellt.
Es ist der 16. August 1977, der Tag, an dem Elvis Presley im Alter von nur 42 Jahren stirbt. Doch was Leon, Ray und Terry an diesem Tag und der darauf folgenden Nacht zustößt, hat nur bedingt mit dem Ende des vormaligen "Kings of Rock´n´Roll" zu tun. Während Terry befürchtet, dass seine Freundin Misty ihn ausgerechnet mit einem seiner Idole, dem Rockveteranen Dag Wood, betrügen wird, trifft Leon seine große Liebe in einer Edeldisko, und Ray wird von der Frau eines erfolgreichen Bandmanagers abgeschleppt. Dabei haben sie alle einen Job zu erledigen. Terry soll über einen Auftritt des drogensüchtigen amerikanischen Sängers Billy Blitzen, hinter dem sich Johnny Thunders, der 1991 verstorbene Gitarrist der New York Dolls, verbirgt, berichten; Leon ist zu einem Konzert der von ihm verabscheuten (fiktiven) Kunstpunker Leni and the Riefenstahls, die gerne mit Nazi-Insignien kokettieren, abkommandiert, und Ray hat gar keine andere Wahl, als den zufällig in London weilenden John Lennon zu finden und zu interviewen. Denn sonst wird er gefeuert, das hat ihm der Chefredakteur unmissverständlich klar gemacht. Für einen verspäteten Hippie, der auf Joni Mitchell steht, ist bei einem Blatt, das sich ganz dem Zeitgeist verschrieben hat, kein Platz mehr. "Die Musik hatte sich verändert, wie die Musik sich immer ändern wird, und Ray war nicht mitgegangen." Obwohl noch keine zwanzig, ist er zu alt. Und sein größtes Problem ist, dass er sich mit der Musik, über die er schreibt, identifiziert.
Doch obwohl vieles danebengeht in dieser Nacht und so manche Illusion zerbricht, wird am Ende alles gut. Auch wenn das Glück manchmal schon in dem Moment relativiert werden muss, indem man es empfindet. Parsons Helden werden erwachsen. Das sieht nicht bei allen gleich aus. Der eine verlässt sein Elternhaus, der andere kehrt zurück, und der dritte wird bald seine eigene Familie haben. Sie waren Zeugen des letzten großen Aufbäumens einer Jugendkultur, die Mitte der sechziger Jahre begonnen hatte. 1979 wurde Margret Thatcher Premierministerin und sollte Großbritannien so nachhaltig verändern, wie es sich zu diesem Zeitpunkt niemand vorzustellen vermochte. Warum auch das als eine (ungewollte) Folge der Kulturrevolution interpretiert werden kann, bringt ausgerechnet ein Vertreter der vom Punk angefeindeten Rock-Dinosaurier, nämlich der Pink Floyd-Schlagzeuger Nick Mason (in seiner Autobiographie Inside Out) sarkastisch auf den Punkt: "All die Mauerblümchen, die den ganzen Spaß in den Sechzigern verpasst hatten, schlugen nun zurück, sie brachten das Land unter ihre Kontrolle und zerstörten das Gesundheitswesen, das Bildungssystem, die Bibliotheken und alle anderen kulturellen Einrichtungen, auf die sie Zugriff hatten."
Tony Parsons Roman ist ein ernüchterndes, aber dennoch hochsentimentales Stück Erinnerungsliteratur, und gerade deshalb vergnüglich zu lesen. Und aus Deutschland kommt das passende Satyrspiel dazu, nämlich in Form eines Punkromans für die besseren Kreise, den sich der ehemalige Titanic-Chef Oliver Maria Schmitt ausgedacht hat.
Die "Gruppe Senf" war nie eine große Punkband. Den Weg von der Dilettantenkapelle zur Rocklegende hat die Schülercombo aus der Provinz nie zurücklegen dürfen. Dass sie überhaupt so etwas wie einen kleinen Hit zu verzeichnen hatte, ist eher Verdienst ihres zwielichtigen Managers. Und auf der Platte stand nicht einmal ihr richtiger Bandname. Das alles passierte 1982, als in Britannien die ganze Schau schon wieder vorbei war. Wie sagt noch Jon Savage in seiner Punkgeschichte England´s Dreaming: "Germany was slow to react musically." Nichtsdestotrotz machen sich Jahrzehnte später zwei Bandmitglieder in einem erschwindelten Mercedes auf zu einem Revival-Konzert, das ausgerechnet am Rande des vereinigten Deutschlands stattfinden soll. Praktisch in der DDR, wie es schon im ersten Kapitel heißt. Unterwegs gilt es, die verstreut lebenden ehemaligen Angehörigen der Gruppe Senf einzusammeln. Das mag manchen Leser ein bisschen an den Film Blues Brothers, aber auch an Hunter S. Thompsons abgedrehte Drogenodyssee Angst und Schrecken in Las Vegas erinnern. Und wer nicht von selbst drauf kommt, erhält den entsprechenden Hinweis vom Ich-Erzähler, dem Schmitt lustigerweise den Namen des Frontmanns der legendären Fehlfarben verpasst hat. Peter Hein also ist die treibende Kraft des ganzen Unternehmens. Ihm geht es allerdings weniger um die Musik, der Gedanke daran ist ihm eher peinlich. Den ehemaligen Kleinstadtpunk treibt die Hoffnung, seine große Liebe Itty Lunatic, damals Gastsängerin der Band und heute Bewohnerin eines Erdlochs im Braunkohlerevier Horno, wiederzusehen.
Man merkt schon, Oliver Maria Schmitt will sich einen Jux machen. Dabei bedient er sich eines Erzählstils, wie ihn Eckhard Henscheid dereinst in seiner Vollidioten-Trilogie kultiviert hat, und bastelt unter Verwendung zeittypischen Sprachmülls wundersame Satzgefüge, die auch durch die korrekte Verwendung des Konjunktivs der indirekten Rede überzeugen. Das ist fast immer sehr beeindruckend, manchmal ziemlich witzig, nicht selten aber auch enervierend. Also wahrscheinlich richtige Literatur mit großem "L", gegen die sich Parsons sentimentaler Realismus fast bodenständig ausnimmt. Fraglich bleibt allerdings, ob der artistische Aufwand auch einen entsprechenden ästhetischen Mehrwert hervorbringt. Gewisse Ermüdungserscheinungen bei der Lektüre lassen den Rezensenten daran zweifeln.
Tony Parsons: Als wir unsterblich waren. Roman. Aus dem Englischen von Christian Seidl. 424 Seiten. Blumenbar, München 2006. 432 S., 19,90 EUR
Oliver Maria Schmitt: Anarchoschnitzel schrien sie. Ein Punkroman für die besseren Kreise. 345 Seiten. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2006. 352 S., 19,90 EUR
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