Die Botschaft hatte er verstanden

IM SPIEGEL DER POPKULTUR Eine persönliche Nachlese zum Erbe der Achtundsechziger

Johannes Agnoli ist zornig. Der Berliner Politologe, dessen 1967 gemeinsam mit Peter Brückner verfasstes Buch Die Transformation der Demokratie zu den Schlüsselschriften der außerparlamentarischen Opposition gehörte, mag sich nicht damit abfinden, dass viele seiner damaligen Mitstreiter sich heute von ihrer revolutionären Vergangenheit zu distanzieren suchten. Ausgerechnet die "radikalsten Elemente" unter ihnen gerierten sich 30 Jahre später als "Verfassungspatrioten, die eher zufällig in den Strom der Ereignisse geraten seien". "Ohne Not und aus reiner Opportunität" hätten sie sich gewendet, unterstellt Agnoli, und vielleicht hat er damit sogar recht. Nur dass die Betroffenen ihre 68er-Vergangenheit durchaus nicht herunterspielen, sondern im Gegenteil wie eine Auszeichnung mit sich herumtragen. Zwar würden sie wahrscheinlich nicht, wie Agnoli in dem Band 1968 und die Folgen, auf die Idee kommen, ihre alten, von schwer radikalem Jargon geprägten, Aufsätze und Artikel wieder zugänglich zu machen, doch als Orientierungsgröße muss die magische Jahreszahl "1968" selbst in aktuellen politischen Diskussionen, zuletzt während des Kosovo-Krieges, immer wieder herhalten.

Manch ein Lebensunterhalt lässt sich gar mit der publizistischen Ausschlachtung der eigenen Biographie verdienen, wie der Fall des vormaligen kommunistischen Parteidichters Peter Sch. beweist, der schon mal in der Literarischen Welt in üblich denunziatorischer Manier über das Verhältnis der 68er-Literatur zur Gewalt fabulieren durfte. Agnoli selbst sieht sich fern von solchen "Abwertern" und "selbsternannten Nachlassverwaltern". Nicht der heute immer stärker betonte kulturrevolutionäre Aspekt der Bewegung interessiert ihn, sondern ihre mögliche politische Perspektive. Die Politik der rot-grünen Bundesregierung dürfte für ihn der endgültige Beweis sein, dass sich im "langen Marsch durch die Institutionen" das Scheitern der Revolte, von dem er im letzten der Aufsätze aus dem Jahre 1989 noch nicht reden mochte, manifestierte. Andererseits kennten Revolten "im allgemeinen nur das Scheitern, sonst wären sie Revolutionen". Zweifel an der eigenen Position scheinen dem ungebrochenen Marxisten Agnoli fremd, auch wenn er sogenannte "Fehler", die in einigen der neu abgedruckten Texte - er sagt nicht, in welchen - deutlich würden, konzediert. So zeichnet dieser Sammelband das Bild eines mit historischem Optimismus gesegneten, nicht korrumpierbaren linken Intellektuellen, dessen übersichtliches Weltbild einem fast sympathisch sein möchte. Schließlich war der Rezensent einst auch im Besitz eines solchen, und dies hatte nicht unerheblich mit der 68er-Revolte zu tun, auch wenn das für ihn einschneidendste Erlebnis jenes Jahres der Wechsel von der dörflichen Volksschule zum kleinstädtischen Gymnasium war.

An diesem Gymnasium fand ein Jahr später auch die erste Begegnung mit der Revolte statt, als nämlich während der Schülersprecherwahl der Kandidat der USG (Unabhängige Schülergruppe) durch sein freches und verbalradikales Auftreten den schüchternen Quintaner verprellte, so dass dieser prompt seine Stimme einem konzilianteren, bewusst unpolitisch auftretenden Kandidaten gab. Erst in den frühen siebziger Jahren, mit Einsetzen der Pubertät, bot die antiautoritäre Bewegung ein ausgezeichnetes Identifikationsmodell für den mittlerweile aufsässiger gewordenen Knaben. Dabei ging es zunächst um naheliegende Dinge wie die Länge des Haupthaars, die Lautstärke der Musik, die Enge der Jeans und um Sex. Was das alles mit Politik zu tun hatte, darüber belehrten einen Schallplatten wie Floh de Colognes Fließbandbabys Beatshow oder Bücher wie Günter Amendts Klassiker Sexfront, den man wie die gesammelten Konkret-Kolumnen von Ulrike Meinhof vom 2001-Versand bezog. Klare Feindbilder waren wichtig. Von den Amerikanern, die die Allende-Regierung in Chile gestürzt hatten, über die SPD und ihren Radikalenerlass bis zum reaktionären Schuldirektor, der die Schülerzeitung verbot, und dem geldgierigen Diskobesitzer, der uns Jugendlichen das Geld aus der Tasche zog, Auflehnung gegen eine solche Ansammlung von Macht und Geld war Ehrensache.

Doch was der APO schon Ende der sechziger Jahre widerfahren war, spielte sich in der jugendlichen Oppostion der westfälischen Kleinstadt um Jahre verspätet noch einmal ab. Während einer Demonstration für ein selbstverwaltetes Jugendzentrum kam es zu tätlichen Auseinandersetzungen zwischen den rabiaten Ordnertrupps der DKP-nahen Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend und Mitgliedern der maoistischen Gruppen KBW und KPD/ML. Von da an ging es weniger um das Jugendzentrum als um die Auseinandersetzung zwischen "Revisionisten" beziehungsweise "Sozialimperialisten" einerseits und "Chaoten" andererseits, politische Theorie trat an die Stelle des Pop-Diskurses. Während die SDAJ sich zumindest der Jugendkultur zu bedienen versuchte, vertrauten die Maoisten ganz auf den Charme eines nachgeäfften Proletkults und die Überzeugungskraft der Schriften aus Peking oder Tirana. Angesichts solcher Alternativen entwickelte der Rezensent ein ziemlich nostalgisches Verhältnis zur 68er-Revolte, wobei ihm entging, dass der von den Politsekten der siebziger Jahre gepflegte rechthaberische Gestus nicht von diesen erfunden worden war, sondern seine Wurzeln bereits in der APO hatte.

In seinem Beitrag für das "unvollständige Lexikon" '68 und die Folgen weist Ex-KBW'ler Joscha Schmierer zu Recht darauf hin, dass der Dogmatismus eben nicht von außen in die Idylle der antiautoritären Bewegung eingedrungen sei, "um dann die fremde Gestalt der K-Gruppen anzunehmen". Auch Christian Semler, Mitbegründer der KPD/AO und heute taz-Redakteur, versucht im gleichen Band gegen den schlechten Ruf der K-Gruppen, sie hätten eine "blühende, vielfältige Bewegung unter die Knute des dogmatischen Konformismus" gezwungen, anzugehen und statt dessen die "Erbschaften" der Maoisten unter die Lupe zu nehmen, als da unter anderem wären "ein schroffer Anti-Utopismus" und ein "linker Anti-Totalitarismus", die sich eben der Enttäuschung ihrer politischen Hoffnung verdankten. Es ist nachvollziehbar, dass sich die beiden Autoren ungern an die Alltagspraxis ihrer früheren Gruppierungen erinnern, wie sie vor langer Zeit in einem Rotbuch mit dem schönen Titel Wir warn' die stärkste der Parteien anschaulich geschildert wurde. Doch man muss ihnen zugute halten, dass sie sich überhaupt zu dieser "mit dem Schnee des gnädigen Vergessens" (Semler) bedeckten Phase ihrer politischen Biographie äußern. Vergleichbares stünde sicherlich auch Ex-Mitgliedern anderer Organisationen nicht schlecht an. Bis auf Burkhard Spinnens sensible Erinnerungsprosa an einen Deutschlehrer, Helmut B., Jahrgang 42, der eben überhaupt nicht dem gängigen Klischee des 68ers entspricht und vielleicht deshalb typisch ist, bringen die anderen Beiträge des Bandes im Großen und Ganzen das, was man auch in anderen Erinnerungsbüchern zum 30jährigen Jubiläum der Revolte lesen konnte. Die Stichworte lauten "Dritte Welt", "Sexuelle Befreiung", "Drogen", "Frauen" oder "Antiautoritäre Erziehung", und die meisten Autorinnen und Autoren, unter ihnen Gerburg Treusch-Dieter, Bahman Nirumand, Wolfgang Kraushaar und Uwe Wesel schreiben informativ und unterhaltsam.

Auf einen entscheidenden Unterschied zwischen der Bewegung in Deutschland und in seinem Nachbarland weist die langjährige Betreiberin der linken Wiener Buchhandlung Hermann, Brigitte Salanda, hin: "Während in der Bundesrepublik viele Kinder aus faschistischen oder Mitläuferfamilien oder aus bürgerlichen Familien tragend waren, bildeten bei uns Kinder von KÖPlern oder SPÖlern, also Kinder aus direkt politischen Familien, den Kern." Also entstand die Politik der 68er hier nicht aus dem Vorwurf an die Eltern, sondern eher aus der Auseinandersetzung mit deren Vorstellung von linker Politik. Der Beitrag allerdings, und dies ist seiner, oben skizzierten, politischen Sozialisation geschuldet, ist ein Interview mit dem früheren Ö3-DJ Wolfgang Kos mit dem Titel Dissidenz via Popmusik. Präziser und anschaulicher ist selten die Rolle der populären Musik der sechziger Jahre bei der Herausbildung oppositionellen Denkens dargestellt worden. Hier wird auch klar, wie stark die 68er-Bewegung von amerikanischen Vorbildern geprägt wurde. "Ich nahm damals die politischen Konflikte im Spiegel der Popkultur wahr", sagt Kos. "Niemand glaube ich, hatte sich je die Frage gestellt, warum es in Amerika keine Linke gab, warum die Gewerkschaftsbewegung so anders war, warum es dort keine Sozialversicherung gab. Dass sich die Guten gegen die Reaktionäre erhoben, wurde erst in den Auseinandersetzungen um den Vietnamkrieg spürbar."

Es ist heute kaum noch nachzuvollziehen, wie sehr sich die Ablehnung gesellschaftlicher Zwänge mit den kaum oder nur halb verstandenen, englischen Texten von Pop-Songs verband. Vielleicht lag es an den Aggressionen, die die fremden Klänge automatisch bei Erwachsenen hervorzurufen schienen. Übrigens finden sich in diesem Band auch hübsche Faksimiles, zum Beispiel von der BRAVO-Hitparade vom 22. Juli 1968. Auf Platz 1 stehen die Small Faces mit ihrer Cockney-Hymne Lazy Sunday, ein Stück, das der Rezensent damals zum ersten Mal vom Tonbandgerät seines sechs Jahre älteren Cousins vernahm. Auch wenn er nicht wusste, was gemeint war, wenn Steve Marriot Close my eyes and drift away sang - die Botschaft hatte er verstanden.

Johannes Agnoli: 1968 und die Folgen. Ca Ira Verlag, Freiburg 1998, 275 S., 30,- DM

Christiane Landgrebe/Jörg Plath (Hrsg.): '68 und die Folgen. Ein unvollständiges Lexikon. Argon Verlag, Berlin 1998, 143 S., 34,- DM.

Bärbel Danneberg u.a. (Hrsg.): die 68er. eine generation und ihr erbe. Döcker Verlag, Wien 1998, 392 S., 54,- DM

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