Am Anfang steht ein Brief "aus der Zukunft". Im Dezember 1989 berichtet die junge Amerikanerin Ann ihrer Mutter Joan von einem Besuch bei ihrem Großvater in Düsseldorf. "Er hat mir erzählt, dass er dreimal operiert worden ist, hauttransplantationen, in Berlin. In einem krankenhaus das Charité heisst. Sie haetten einen Zombie aus ihm gemacht. Geld, unterstuetzung hat er von niemand bekommen, nicht vom Griechischen staat und vom Deutschen auch nicht. Deshalb sitzt er in diesem dreck und hält sich am leben mit korrekturlesen. Fuer verlage die wissenschaftliche spezialwerke publizieren. Eine vollkommen sinnlose arbeit für einen menschen, der selber forschen und andern erkenntnisse vermitteln wollte. Aber eine arbeit bei der ihn niemand sehen muss." Viktor Bliss heißt der Mann, von dem hier die Rede ist. Linker Historiker, Berufsverbotsopfer, zweifelnder Kommunist. Seine schweren Verletzungen hat er sich bei einem Waldbrand in Griechenland zugezogen, wohin er Ende der siebziger Jahre - politisch und persönlich ratlos - emigriert war.
So beginnt Erasmus Schöfers Tetralogie Die Kinder des Sisyfos bereits mit einer ernüchternden Vorausschau auf ihr Ende, bevor sie in jenen Frühling irrer Hoffnung des Jahres 1968 eintaucht, der dem 2001 erschienenen ersten Band seinen Titel gab.
Und nun ist es so weit. Mit dem Roman Winterdämmerung findet das monumentale Erzählwerk des 1931 in Berlin geborenen Schöfers, in dem er sich mit Lust und Leidenschaft der nicht immer ruhmreichen Geschichte der bundesrepublikanischen Linken vom Schlüsseljahr der Revolte bis zum Vorabend der Vereinigung der beiden deutschen Staaten Ende 1989 widmet, seinen Abschluss.
Die frühen achtziger Jahre sind die hohe Zeit des außerparlamentarischen Protestes. Noch ahnt niemand etwas vom bevorstehenden Ende des Kalten Krieges, als Hunderttausende gegen die Stationierung von Mittelstreckenraketen in Europa protestieren, in Westberlin und anderen Großstädten leerstehende Häuser besetzt werden und es im hessischen Mörfelden-Walldorf zu gewaltsamen Auseinandersetzungen um die geplante Startbahn West des Frankfurter Flughafens kommt.
Im Rückblick mag es paradox erscheinen, doch kann die politische Linke von dem Umstand, dass sich Friedens- und Ökologiebewegung bislang ungekannter Sympathie und Unterstützung erfreuen, kaum profitieren. Im Gegenteil: Zwar berichtet der Reporter Armin Kolenda, neben Bliss und dem Betriebsrat Manfred Anklam eine der zentralen Figuren des Romanwerks, engagiert für die Demokratische Zeitung (hinter der sich die Volkszeitung, eine der beiden Vorläuferinnen des Freitags verbirgt) von den Protestaktionen, doch können diese nicht darüber hinwegtäuschen, dass dem großen Projekt Gesellschaftsveränderung die Basis abhanden gekommen ist. Wenn es diese denn jemals gegeben hat. Der Enthusiasmus, mit dem viele linke Intellektuelle um 1980 herum beginnen, in Gruppen mittels der Lektüre von Peter Weiss´ dreibändigem Roman Die Ästhetik des Widerstands die blutigen Niederlagen der Arbeiterbewegung zu studieren, scheint in diesem Zusammenhang symptomatisch.
Schöfer erzählt davon in einem Kapitel mit dem treffenden Titel Im Arsenal der Geister, das die konstituierende Sitzung einer solchen Lesegruppe in einer Düsseldorfer Buchhandlung schildert. Da darf die alte Debatte über die Rolle des "Werkkreises Literatur der Arbeitswelt" wieder aufleben und die Frage gestellt werden, was wichtiger für "unsere emanzipatorische Kultur" sei, "Kafkas Schloss oder Neukrantz Barrikaden am Wedding". Als ob es sich hier um eine realistische Alternative handeln würde, wie der gefeuerte Betriebsrat Manfred Anklam gut weiß: "Vergleicht er die von Weiss geschilderten Berliner Arbeiter und ihre Kunstbetrachtungen mit seinen eigenen Betriebserfahrungen, mit den Gesprächen, die zwischen Kollegen beim Frühstück oder in der Kantine geführt wurden, dann haben sich die deutschen Industriearbeiter entweder unter dem Einfluss des Fernsehens in den vergangenen Jahrzehnten radikal verändert, oder Peter Weiss hat ihnen dies wissbegierige Verhalten, weil er sie sich so wünschte, angedichtet." Doch hindert ihn dieses Wissen nicht daran, am Ende der Sitzung mit den anderen auf einen "blumenreichen, poesievollen und freundlichen Sozialismus" anzustoßen, ein "Zukunftswunsch", an dessen Erfüllung zu glauben, den Anwesenden immer schwerer fällt.
Doch hieße es, die Intention des Autors zu verkennen, würde man dieser Szene ironische Distanz unterstellen. Das Pathos des Trinkspruchs ist so echt wie die vorhergehende Debatte, mag dies heutigen Lesern auch fremd vorkommen. "Meine Absicht ist es", so Schöfer in einem Gespräch mit Jürgen Lodemann, "diese Zeitabschnitte aus der Zeit heraus verständlich zu machen. Damals war meine Erfahrung, dass die von mir erlebten historischen Vorgänge entstellt wurden und diffamiert." Und diesen Anspruch auf Authentizität löst er konsequent ein. Keine Erzählinstanz erhebt sich über das Denken und Fühlen der Figuren, die Konfrontation ist unmittelbar und deshalb nicht immer schmerzfrei.
Wenn beispielsweise der leitende Redakteur der Blätter für deutsche und internationale Politik, damals eine der vielen wirtschaftlich von den Zuwendungen aus dem anderen deutschen Staat abhängigen linken Zeitschriften, die "Unterdrückung der Friedensgruppen in der DDR" zwar für "borniert" und "schädlich" hält, offene Kritik daran aber ablehnt, weil damit die als "ideologisches Diversionsmittel" geplante "Menschenrechtspropaganda" der US-Regierung unterstützt würde, wird mancher vielleicht daran erinnert, selbst ähnlich argumentiert und sich dabei noch für einen besonders cleveren Dialektiker gehalten zu haben.
Auch andere peinliche Episoden aus der Geschichte der westdeutschen Linken finden in Schöfer ihren Chronisten. Herzensangelegenheit ist ihm dabei die DKP, jene "ärmliche NullkommadreiProzent Partei im abgetragenen Fummel der älteren Schwester, dies organisierte Sinnbild der Vergeblichkeit", wie er den an Leib und Seele geschundenen Kommunisten Viktor Bliss formulieren lässt, als dieser 1984 Zeuge der Exkommunikation von drei kritischen Parteimitgliedern, unter ihnen der Lyriker Peter Maiwald, wird. Sie hatten sich erdreistet, mit der Düsseldorfer Debatte eine unabhängige linke Zeitschrift herauszugeben.
Lange ist das her, und man mag sich fragen, warum es dem Autor notwendig erscheint, an diesen Akt außergewöhnlicher, aber in gewisser Hinsicht auch typischer Borniertheit zu erinnern. Vielleicht treibt ihn hier dieselbe Kraft an, die ihn noch 1989 einen Diskussionsband herausgeben ließ, in dem es um die Frage ging, ob die DKP noch zu retten sei. Dass dies nicht der Fall war, wusste Schöfer, als er mit der Arbeit an den Kindern des Sisyfos begann. Den Gedanken, "dass eine kommunistische Partei in diesem Land einen Sinn hat und dass man sie so entwickeln muss, dass sie auch eine größere Überzeugungskraft findet", mag er dennoch nicht von sich aus, wie er in einem Gespräch mit Günter Wallraff betont, aufgeben.
Nun wird, wer die vier Bände dieses über 2000 Seiten umfassenden Epos liest, nicht notwendigerweise zu dieser Auffassung gelangen. Wahrscheinlich wird er verstehen lernen, was die Treibkraft für den Wunsch nach gesellschaftlicher Veränderung war, wird begreifen, wie Biographie und politisches Engagement ineinander verwoben sein können. Doch am Ende wird er wie der frischgebackene SPD-Sozialist und Betriebsrat Manfred Anklam reagieren, nämlich sprachlos, wenn ihm Ann, deren Brief den Prolog zum ersten Band der Tetralogie bildet, mit ihren Zweifeln an den Arbeiteraktionen zur Rettung des Stahlwerks in Duisburg-Rheinhausen konfrontiert: Ob sie nämlich tatsächlich "diese schrecklichen Arbeitsbedingungen sich erhalten wollten, statt für ihre Abschaffung zu kämpfen?" Die scheinbare Naivität dieser Frage nämlich führt zu einem Grunddilemma linker Politik, das auch durch wohlfeile Forderungen nach einer ökologisch akzeptablen Industriegesellschaft mit menschenwürdigen Arbeitsplätzen nicht zu lösen ist. "Und wie naiv sind wir Marxisten", kommentiert Viktor Bliss schließlich die Empörung seiner Enkelin, "wenn wir meinen, die Welt werde gerettet, wenn das privatkapitalistische Eigentum sozialisiert ist!"
Zumal diese Welt von Menschen bewohnt wird, deren Verhalten nicht berechenbar ist, wie das Geschichte des Gewerkschaftssekretärs Hannes Sonnefeld zeigt, die so etwas wie das finstere Mittelstück des Romans bildet. Den auf tatsächlichen Begebenheiten beruhenden Stoff hat Schöfer bereits in den neunziger Jahren zu einem Hörspiel verarbeitet. Sonnefeld, der sich innerhalb des DGB für eine linke Kulturpolitik stark macht, entzieht sich dem Verdacht, die Tochter seiner Lebensgefährtin getötet zu haben, durch Selbstmord. Die Frage seiner Schuld bleibt ungeklärt. Armin Kolenda, Sonnefeld freundschaftlich verbunden, versucht, das Unbegreifliche nachzuvollziehen und scheitert.
Seine Spurensuche gehört dennoch zu den bemerkenswertesten Passagen des Romans, führt sie doch in einen Bereich, wo die bekannten politisch-gesellschaftlichen Erklärungsmuster versagen. Es ist die unerwartet bittere Ironie dieser Geschichte, dass Sonnefeld natürlich dabei war, als im Anschluss an die erste Sitzung der Peter-Weiss-Lesegruppe auf einen "freundlichen Sozialismus" angestoßen wurde, der der Erde zu einer "Gattung friedlicher, freier und hilfsbereiter, vernunft- und liebebegabter Lebewesen" verhelfen möge.
Es sei nicht geleugnet, dass es auch in Winterdämmerung Momente gibt, wo die Utopie konkret wird. Dies ist vor allem in den zahlreichen, poetisch forcierten, erotischen Szenen der Fall. Am Ende allerdings überwiegt, zumindest beim Rezensenten, ein eher pessimistisches Gefühl. Doch das muss nicht so sein. Schließlich handelt es sich bei Die Kinder des Sisyfos um ein literarisches Kunstwerk, dem die Souveränität seiner Leserinnen und Leser geradezu zum Strukturmerkmal geworden ist.
Erasmus Schöfer Winterdämmerung. Die Kinder des Sisyfos. Zeitroman. Dittrich, Berlin 2008, 624 S., 24,80 EUR
Volker Dittrich (Hrsg.) Unsichtbar lächelnd träumt er Befreiung. Erasmus Schöfer unterwegs mit Sisyfos. Dittrich, Berlin 2008, 225 S., Berlin 2006, 224 S., 17,80 EUR
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