Es gehört zu den Merkwürdigkeiten unserer "kleinen deutschen Kulturrevolution" (Gerd Koenen) der Jahre 67 bis 77, dass die Verabschiedung von der so genannten bürgerlichen Literatur einher ging mit einem unbedingten Glauben an die Macht des Wortes. Aus der wahrheitsgetreuen Beschreibung der Zustände in der kapitalistischen Bundesrepublik, möglichst durch die Ausgebeuteten selbst, sollte deren Überwindung erwachsen. Ob der "Werkkreis Literatur der Arbeitswelt" schreibend und diskutierend dazu beitragen wollte, "die gesellschaftlichen Verhältnisse im Interesse der Arbeitenden zu ändern", oder aber die Herausgeber der AutorenEdition (ausgerechnet im Bertelsmann Verlag) der "deformierten Wirklichkeit" mit den Mitteln realistischen Erzählens beizukommen trachteten, das Vertrauen in die Literatur war riesengroß, so dass, wer die zeitgenössischen Pamphlete heute liest, nicht selten ein Gefühl der Rührung empfindet.
So ganz Unrecht hatten die Propagandisten einer "operativen Literatur" ja auch nicht, schließlich war ein Gutteil der gängigen Protesthaltung Frucht unbotmäßiger Lektüre. Wem vermittelte Heinrich Bölls Katharina Blum nicht das Gefühl, die Bundesrepublik sei zum Polizeistaat mutiert? Wer las Bernt Engelmanns Großes Bundesverdienstkreuz nicht in der Gewissheit, die westdeutsche Wirtschaftselite rekrutiere sich zu einem beträchtlichen Teil aus Profiteuren des Nationalsozialismus? Und welcher kritische Geist war nicht empört, wenn Günter Wallraffs Berichte aus der Bild-Redaktion exakt bestätigten, was man schon immer über den Springer-Journalismus vermutet hatte?
Auch wenn es im Rückblick manchmal so scheinen mag, war es allerdings keineswegs so, dass die bundesrepublikanische Linke der siebziger Jahre sich in einer Fantasiewelt behaglich eingerichtet hätte. Ob durch seine Atompolitik, die manchmal hysterische Jagd auf Terroristen und ihre "Sympathisanten" oder den unseligen "Radikalenerlass", der westdeutsche Staat ließ wenige Gelegenheiten aus, der Protestbewegung immer wieder neue Legitimation zu verschaffen. Nicht wenige, die 1972 noch einen "Willy wählen"-Button an der Jeansjacke trugen, wähnten sich schon zwei Jahre später im Widerstand gegen einen Moloch aus sozial-liberal camouflierter Technokratenherrschaft und Kapitalmacht. Und fühlten sich nicht schlecht dabei. Schließlich ließ sich so selbst der Einsatz für ein selbstverwaltetes Jugendzentrum als Teil des Kampfes gegen die entfremdeten Lebensbedingungen im Spätkapitalismus begreifen.
Wem diese Zusammenhänge fremd sind, weil er damals zu alt oder zu jung war oder weil er vielleicht vergessen hat, wie außer ihm auch viele andere dachten, dem mag folgendes Zitat auf die gedanklichen Sprünge helfen: "Da gibts auch im Jugendgericht genug, die sind unkündbar braun gegerbt unter den schwarzen Talaren, ungebrochne Verteidiger von Pflicht und Ordnung im deutschen Vaterland, Flaschen abstauben im Supermarkt oder Beförderungserschleichung bei der KVB reicht schon so lang die Bewährung läuft, weiß euch Armin als angestellter staatlich geprüfter Sorger für überflüssige Teenies, der Beichtvater ohne Ölung von Gnaden der Ausgesetzten im kostenpflichtigen Garten der Lüste. (...) Das war die Falle. Entweder betreust du die Gebote des Schweinesystems oder du betreust die armen Schweine."
Der hier den Komplex Konsumterror, Nazirichter, Randgruppenproblematik und das Dilemma des linken Sozialarbeiters so trefflich auf den Punkt bringt, ist Armin Kolenda, die Hauptfigur im zweiten Band von Erasmus Schöfers groß angelegtem Romanprojekt über die Jahre zwischen 1968 und 1989 Die Kinder des Sisyfos. Handelte der erste Band Ein Frühling irrer Hoffnung (2001, Freitag 13/2001) von der Aufbruchstimmung und den Enttäuschungen der 68-er Revolte, widmet sich die zweite Lieferung den siebziger Jahren. Und während die erzählte Zeit des Einstiegsromans nur wenige Wochen umfasste, erstreckt sich die Handlung von Zwielicht über mehrere Jahre, von einer Betriebsübernahme durch die Belegschaft zum Erhalt der Arbeitsplätze zu Beginn des Jahrzehnts über den Widerstand gegen das Atomkraftwerk in Wyhl bis zum "Deutschen Herbst" 1977.
Kolenda ist seinen Job im kirchlich getragenen Jugendzentrum los, weil er Straftaten der ihm "anvertrauten Jugendlichen der Heimleitung verhehlt" habe. Er wird zum Journalisten, zunächst freiberuflich, später als Redakteur der Demokratischen Zeitung, hinter der sich die in Düsseldorf herausgegebene Deutsche Volkszeitung (eine der Vorgängerzeitungen des Freitag) verbirgt. Außerdem mischt er im "Werkkreis Literatur der Arbeitswelt" mit. Seine Reportagen und Artikel sind Musterbeispiele eines engagierten Journalismus. Immer auf der Seite der Betroffenen, aber dabei nicht unkritisch. Kein Wunder, dass seine Arbeit nicht immer Begeisterung hervorruft, auch nicht bei denen, für die er schreibt, seien es die Arbeiter der übernommenen Glasmanufaktur oder die widerständigen Bauern im Dreyeckland. Aber auch bei der Demokratischen Zeitung darf nicht jeder schreiben, was er will. Warum er sich ein Interview mit Günter Grass aus dem Kopf schlagen solle, bekommt Kolenda von der Kulturredakteurin mit dialektischer Spitzfindigkeit erklärt: "Selbst wenn er dir ein Interview gäbe, würde er dir irgendwas reindrücken, womit wir nicht übereinstimmen, was wir kommentieren müssten, Biermann, Bahro, Solshenizyn, wasweißich. Du kannst aber nicht Grass haben wollen und sagen, ich nehm nur die schöne Hälfte, die antikommunistische soll er behalten."
So wird en passant das Dilemma einer Linken offenbar, die sich, immer das höhere Ziel vor Augen, bereitwillig Restriktionen unterwirft und damit in gewissem Sinne ihre Marginalisierung nach 1989 selbst zu verantworten hat. Dass die Erweiterung des bundesrepublikanischen Pressespektrums nach links zudem von den Machthabern des sozialistischen Nachbarstaates mit nicht geringen Mitteln finanziell gefördert wurde, spielte natürlich ebenfalls eine Rolle, obwohl man nicht meinen sollte, die Ursache der politischen Scheuklappen sei hier zu suchen. Intellektuelle Selbstkasteiung aus freien Stücken war schon immer eine bevorzugte Beschäftigung vieler Linker nach 1968, gleichgültig ob sie sich nach Moskau, Peking, Tirana oder Pjöngjang orientierten.
Schöfers epische Darstellung dieser politischen Gemengelage ist ebenso eindrucksvoll wie befremdend, konfrontiert sie den Leser doch hautnah mit einem Aspekt bundesrepublikanischer Geschichte, der selbst in den Köpfen der Beteiligten keine große Rolle mehr zu spielen scheint. Man taucht ein in hitzige Debatten um Literatur und Parteilichkeit, die Rolle der Gewerkschaften oder die Notwendigkeit, sich politisch zu organisieren. Die Protagonisten sind dabei nicht nur Verkünder irgendwelcher Auffassungen, sondern komplexe Charaktere voller Widersprüche; neben Armin Kolenda der selbstzweiflerische Intellektuelle Viktor Bliss und der linke Betriebsrat Manfred Anklam, die bereits in Ein Frühling irrer Hoffnung tragende Rollen hatten. Die Siebziger-Jahre-Parole, das Private sei politisch, hier findet sie ihren adäquaten Ausdruck. Um dies zu erreichen, bedient sich der Autor eines ganzen Arsenals erzählerischer Mittel, vom inneren Monolog über Montagetechniken und eine sehr eigenwillige Rechtschreibung bis zur Verfremdung des Schriftbildes. Und da die erzählte Geschichte zu einem nicht geringen Teil auch die seine ist, gönnt sich Erasmus Schöfer als Interviewpartner Armin Kolendas sogar einen eigenen Auftritt.
Aber viel wichtiger ist ihm wahrscheinlich, dass er mit Zwielicht jenen Roman vorlegt, von dem er Kolenda seinen Werkkreis-Kollegen vorschwärmen lässt: "Da wird aus verschiedenen Perspektiven erzählt, da wird montiert und dokumentiert, da stehn Gedichte zwischen Prosa und dramatischen Szenen, alles ist erlaubt und gehört zu einer realistischen Erzählstrategie, vorausgesetzt, die Verwendung dieser Formen ist nicht willkürlich, sondern inhaltlich begründet." Und letzteres lässt sich diesem Roman mit Fug und Recht bescheinigen, geht es doch im Grunde um einen der komplexesten Zusammenhänge überhaupt, nämlich den zwischen Realität und ihrer sprachlichen Darstellung. Während an die umstürzlerische Kraft des schriftstellerischen Wortes niemand mehr so recht glauben mag (wohl auch die Kulturstiftung des Landes NRW nicht, die das Entstehen des Buches finanziell gefördert hat), zeigt Zwielicht eine andere Qualität erzählender Literatur. Erasmus Schöfer mag eine Art "Ästhetik des Widerstands" im BRD-Format im Sinn gehabt haben, gelungen ist ihm, eine fast vergessene Zeit festzuhalten und nachfolgenden Generationen verständlich zu machen. In diesem Falle allerdings muss man unbedingt auch diejenigen dazu zählen, die "dabei" gewesen sind.
Erasmus Schöfer: Zwielicht. Die Kinder des Sisyfos. Zeitroman. Dittrich, Köln 2004, 595 S., 24,80 EUR
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