Ein Zug aus Dresden

Ohne Rückfahrkarte Thomas Brussig großer Zeitgeschichtsroman vom Ende der DDR: "Wie es leuchtet"

Ein Leserbriefschreiber schlug kürzlich in der FAZ vor, die zwei, vor 14 Jahren wieder vereinigten, deutschen Staaten sollten sich doch am Vorbild der Tschechoslowakei orientieren, deren friedliche Aufspaltung in die Tschechische und die Slowakische Republik beiden Ländern von Nutzen gewesen sei. Als eigenständiger Wirtschaftsraum könne der Nachfolgestaat der ehemaligen DDR doch erheblich erfolgreicher agieren als im Gespann des westlichen großen Bruders. Ob hier nicht doch nur der Wunsch der Vater des Gedankens ist, kann man getrost dahingestellt lassen. Fakt ist (als inzwischen Deutschland weit gern benutzte Redewendung übrigens ein erfolgreicher Ost-Artikel), also Tatsache ist, dass nicht nur vielen Bürgern der so genannten neuen Bundesländer inzwischen die DDR nur noch als eine leicht verschärfte Variante des fürsorglichen Wohlfahrtsstaats erscheint, sondern auch ein erklecklicher Teil der Westdeutschen sich die Mauer zurückwünscht.

Dass sich der nach den freudetrunkenen Einheitsfeiern schnell einsetzende Kater mittlerweile zu einer mittelschweren Depression entwickelt hat, unter der Ostler und Westler gleichermaßen zu leiden scheinen, wird nicht nur bei den Protesten und Demonstrationen gegen die Sozialreformen der glücklos und ungeschickt agierenden Bundesregierung deutlich. Dass die Vereinigung durch den auf Pump finanzierten Nachfrageboom der frühen neunziger Jahre die Krise der westdeutschen Wirtschaft für einige Jahre aus dem Bewusstsein verdrängen konnte, wird dabei heute ebenso leicht vergessen wie der Sachverhalt, dass den Ostdeutschen ja beileibe nicht der ungezügelte Kapitalismus angloamerikanischer Prägung "übergestülpt" wurde, sondern dessen sozial abgefederte "rheinische" Variante inklusive ihrer Institutionen. Tschechen, Slowaken und Polen wurde da ganz anderes zugemutet.

Nichtsdestotrotz, die Stimmung ist mies und eine schnelle Besserung nicht in Sicht; da tut es vielleicht gut, sich noch einmal in epischer Breite vorführen zu lassen, was eigentlich so los war im Sommer 1989, als DDR-Bürger zu Tausenden in Ungarn darauf warteten, endlich in den Westen ausreisen zu können. Als die Menschen in Leipzig, Berlin und Dresden auf die Straße gingen und die Staatsmacht sich gezwungen sah, klein beizugeben. Als nämlich Verhältnisse ins Wanken gerieten, die nicht nur der Rezensent für weitgehend unveränderlich gehalten hatte.

Dass es ausgerechnet der Autor Thomas Brussig ist, der uns nun den vor Jahren immer wieder herbeibeschworenen "großen Wenderoman" vorlegt, ist schlüssig und ein bisschen seltsam zugleich. Seit seinem, zunächst unter Pseudonym veröffentlichten Debütroman Wasserfarben ist Brussigs Thema der untergegangene "Arbeiter- und Bauernstaat". Der Legende nach reichte er das Manuskript von Wasserfarben ausgerechnet am 9. November 1989 beim Aufbau-Verlag ein, es ist auch kaum zu vermuten, dass es in den Jahren zuvor eine große Chance gehabt hätte, ins Programm aufgenommen zu werden. Richtig bekannt wurde Thomas Brussig aber erst, als er in Helden wie wir das Ende des ostdeutschen Sozialismus als Groteske erzählte. Vor allem die Respektlosigkeit, mit der hier die auch im Westen hochgeschätzte Literatur der DDR in Person ihrer Repräsentantin Christa Wolf der Lächerlichkeit preisgegeben wird, sorgte für Aufsehen.

Scheinbar versöhnlichere Töne schlug Brussig in dem Roman Am kürzeren Ende der Sonnenallee (1999) an, den er nach seinem Drehbuch für Leander Haussmanns gleichnamigen Film verfasste. Nicht ohne Nostalgie wird hier der Alltag von DDR-Jugendlichen porträtiert, und die Mischung aus Pop, verhaltenem Protest und Pubertät erwies sich als durchaus verführerisch. Wäre man böswillig, könnte man Sonnenallee als Vorläufer der DDR-Shows im Privatfernsehen denunzieren, doch das würde den bitteren Unterton dieser tragikomischen Scheinidylle ignorieren.

Und nun erscheint, 15 Jahre nach dem Fall der Mauer, Wie es leuchtet, ein Roman von Respekt heischenden 600 Seiten, die Platz sowohl für Satyrspiele à la Helden wie wir als auch für die anrührende Komik, durch die sich Sonnenallee auszeichnete, bieten. Auf beides mag der Autor nicht verzichten, und doch gehört dieser Roman einem ganz anderen Genre an, das, obwohl seine Blütezeit schon lange zurückliegt, offenbar noch längst nicht ästhetisch ausgereizt ist. Die Rede ist vom Zeitgeschichtsroman, wie ihn zum Beispiel Lion Feuchtwanger mit seiner Wartesaal-Trilogie (ab 1930) nutzte, um das Ende der Weimarer Republik, den Beginn der nationalsozialistischen Diktatur und die Erfahrung des Exils episch darzustellen. Ein Figurenensemble, manchmal durchaus nach realen Vorbildern modelliert, erfährt gleichsam exemplarisch eine historische Umbruchsituation. Die Zeitläufte werden mit einer fiktiven Handlung verknüpft und dadurch individuell begreifbar gemacht. Ein auktorialer Erzähler sorgt dafür, dass die ausgelegten Fäden nicht durcheinander geraten. Auf den Spott, den sich derartige Erzählkonzepte seit Beginn der literarischen Moderne gefallen lassen müssen, braucht man an dieser Stelle nicht im Detail einzugehen. Die Vorteile für den Leser liegen auf der Hand, denn ist der Autor ein Könner, stellt sich automatisch jenes Gefühl der Identifikation und der Anteilnahme ein, das die Lektüre zum Erlebnis werden lässt.

Und ein Könner ist Thomas Brussig zweifellos. Wenn am 11. August 1989 die Erzählung einsetzt, ist auch der Leser mittendrin. Wir begegnen Lena, einer neunzehnjährigen Physiotherapeutin am Karl-Marx-Städter Bezirkskrankenhaus, am Bahnhof, wo sie auf den Zug aus Dresden wartet. Der kommt auch, allerdings mit Verspätung, doch der, den Lena ihren großen Bruder nennt, sitzt nicht drin. Er saß schon nicht in dem Zug von Budapest nach Dresden, denn er hat, wie viele damals, seine Rückfahrkarte verfallen lassen. Später taucht er doch wieder auf, allerdings im Trabant von Lenas Freund Paulchen, der lieber darauf wartet, über Österreich nach Westdeutschland zu gelangen. Später wird Lena mit einem selbstgeschriebenen Song, der auf großartige Weise das Zeitgefühl erfasst hat, die Hitparaden stürmen. Aber das ist eine andere Geschichte, möchte man jetzt sagen. Das ist aber nicht richtig, denn wir sind immer noch im selben Roman, der viele Geschichten zusammenfügt, um Geschichte erzählbar zu machen.

Lena ist zweifellos die Hauptfigur des Romans, während ihr "großen Bruder" als Fotograf die Rolle eines Dokumentars übernimmt. Er ist es auch, der im Prolog dem Buch eine Art ästhetisches Geleitwort mitgibt. Die vielen Bilder, die er während der Umbruchzeit geschossen hat, seien Opfer des Hochwassers im Sommer 2002 geworden, so dass jetzt die Geschichte neu erzählt werden müsse.

Das Reflektieren über die Möglichkeiten, Wirklichkeit darzustellen, durchzieht den gesamten Roman. Da ist der alte Fritz Bode, ein aufrechter Kommunist, obwohl ihm das DDR-Regime übel mitgespielt hat, dessen Autobiographie gerade aufgrund solcher Widersprüchlichkeiten zum Bestseller wird. Dann der junge Pole Waldemar, der sich in seinem ersten Roman der deutschen Sprache wie eines ungewöhnlichen Werkzeugs bedient und schließlich der legendäre kleine Dichter, dem mit der DDR seine Reibungsfläche abhanden kommt. Eine zentrale Rolle aber kommt Leo Lattke (Brussig mag alliterierende und sprechende Namen) zu, dem Star-Reporter eines westdeutschen Nachrichtenmagazins und späteren Liebhaber Lenas, dem sein monatelanger Aufenthalt in einem Ostberliner Luxushotel vor allem eine gehörige Schreibblockade einträgt. Und als er dann endlich mit einer großen literarischen Reportage aufwarten kann, die sich ob ihrer Parabelhaftigkeit in voller Länge im Roman wiederfindet, mag sie das Magazin nicht drucken, da sie nicht in die neue, von wiedergefundenem Patriotismus erfüllte, Zeit passe.

Es ist schon aus Platzgründen unmöglich, dem Figuren- und Handlungsreichtum des Romans gerecht zu werden, auch wenn es sehr reizvoll wäre, die vielen Bezüge zur außerliterarischen Wirklichkeit aufzudröseln, die der Autor in dem üblichen Fiktionalitätsvermerk zu Beginn des Buches natürlich abstreitet. Doch zumindest Werner Schniedel sollte noch Erwähnung finden, ein 19-jähriger, abgebrochener Wirtschaftsgymnasiast, der sich aufgrund einer Namensgleichheit als Sohn eines hohen Managers aus der Autoindustrie auszugeben vermag und dessen Eskapaden als Dauergast in dem bereits genannten Luxushotel von aufschlussreicher Komik sind. Wie dieser Hochstapler, dem jede Felix-Krullsche Eleganz und vor allem das blendende Aussehen abgehen, sich als Vertreter des westdeutschen Kapitals präsentiert, gehört ebenso zu den satirischen Kabinettstückchen dieses Romans wie seine verblüffende Entlarvung durch eine nur scheinbar tumbe Ostlerin.

Dass Thomas Brussig ein vielseitiger Erzähler ist, der sich bestens auf literarische Knalleffekte versteht, weiß man spätestens seit Helden wie wir. Dass ihm auch leisere Töne liegen, zeigen Bücher wie Wasserfarben und Am kürzeren Ende der Sonnenallee. Nun lernen wir ihn als Großromancier kennen, als Autor, der eine gewaltige Stofffülle souverän bewältigt und in einen mitreißenden Erzählstrom verwandelt. Vielleicht ist es eine Ironie der Literaturgeschichte, dass das Ende dieser seltsamen kleinbürgerlich-sozialistischen Erziehungsdiktatur namens DDR ausgerechnet in einer Romanform ihren adäquaten Ausdruck findet, die sich dortselbst höchster Wertschätzung erfreute.

Thomas Brussig: Wie es leuchtet. Roman. 672 S., S. Fischer. Frankfurt 2004, 672 S., 19,90 EUR


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