Eine deutsche Misere

Doppelleben In "Die Eignung" entwirft Michael Sollorz das Psychogramm eines soldatischen Mannes

DDR, 1988. Lars Hagner, gelernter Dachdecker, leistet seinen Wehrdienst bei der Bereitschaftspolizei ab. Die Kampfausbildung liegt ihm. "Meine Zeit auf den Großbaustellen hatte mich abgehärtet, ich hatte Muskeln und Zähne. Ich war nicht als Spielzeug hergekommen." Und er ist erfolgreich. "Meine Handgranaten trafen den Waldboden exakt inmitten der Kennzeichnung. Meine Meldungen kamen korrekt, meine Kleiderordnung war tadellos. Beim Schießen holte ich die volle Punktzahl, selbst von den Ladeflächen bewegter Fahrzeuge, und auf der Sturmbahn hängte ich alle ab." Schon bald wird man auf ihn aufmerksam, Bossert, ein charismatischer Offizier, nimmt sich seiner an. "Ich fühlte mich auserwählt und war überzeugt, dass alles, was noch vor mir lag, meine Persönlichkeit festigen würde." Die Ausbildung wird härter. Tagelange Übungseinsätze fordern die jungen Männer bis zur völligen Erschöpfung. Dann kommt es zum Ernstfall, zumindest ist das die Überzeugung der Rekruten. Zwei sowjetische Soldaten seien desertiert und befänden sich schwerbewaffnet auf dem Weg zur Grenze. Hagner spürt sie auf: "Ich presste den Kolben ans Kinn und kroch vorwärts, Erde im Mund. Es fühlte sich großartig an. Mein Schweiß stank wie Katzenpisse. Zwanzig, dreißig Meter weit blieb ich am Wegrand. Die Konturen eines Schuppens - da stecken sie!" Er erschießt beide. Bossert lässt ihn ein Protokoll unterschreiben und vertuscht den Vorfall. Glaubt Hagner. Was es tatsächlich mit dem Einsatz auf sich hatte, bleibt ihm verborgen.

Nach der Wende verschwindet Bossert. Hagner leistet den Rest seiner Dienstes ab, dann taucht er in die homosexuellen Subkultur Westberlins ein, in der er sich wie ein Kundschafter bewegt, aber nicht findet, wonach er sucht. "Vereinzeltes war mir brauchbar erschienen. Aber es blieb losgelöst, fügt sich in keinen sinnvollen Zusammenhang und wies nicht über den Horizont hinaus. Diese Männer folgten keinem Stern." Als sich schließlich Bossert bei ihm meldet, empfindet er das wie eine Erlösung. "Ich fühlte in Bosserts Schweigen, dass etwas Gewaltiges und Unaufhaltsames hinter ihm stand, in dem auch ich meinen Platz finden würde." Dieser Platz ist in einer geheimen Partisanenarmee, die das kapitalistische System von innen heraus bekämpft. Hier beginnt Hagners Doppelleben. Als Hausmeister in einer Plattenbausiedlung pflegt er eine Tarnexistenz, während er auf Bosserts Befehle wartet. Befehle, deren Bedeutung er nicht durchschaut. "Es liegt im Wesen unserer Sache, dass sich ihre feinen Verästelungen dem Einblick des Einzelnen entziehen. Jeder bleibt auf sich allein gestellt. Auch Bossert sieht nur seinen begrenzten Bereich. Wir akzeptieren die Notwendigkeit unserer Hierarchie. Die Konspiration dient unserem Überleben." Diese Maxime befolgt Hagner auch, als von ihm verlangt wird, Menschen zu töten. So weit geht sein Vertrauen zu Bossert, dass er eindeutige Hinweise auf dessen wirkliche Identität zu einer Loyalitätsprobe umdeutet. Und es besteht kein Zweifel daran, dass er sie bestehen wird. "Niemals werde ich Bossert verraten."

Das ist der Stoff, aus dem Thriller gemacht werden. Doch in diese Kategorie fällt der Roman Die Eignung des 1962 in Berlin geborenen Autors Michael Sollorz nicht, obwohl es sich um ein überaus spannendes Buch handelt. Die Geschichte des Lars Hagner ist das Psychogramm eines Mannes, dem die Grenze zwischen Einbildung und Wirklichkeit unmerklich verwischt. Was als faktengesättigter Bericht beginnt, wird mit Fortschreiten der Erzählung zu einer Expedition in eine Wahnwelt, allerdings ohne dass der Leser in der Lage wäre, Fantasie und Realität klar voneinander zu trennen. Denn der Gewährsmann Hagner ist, der scheinbaren Sachlichkeit und Präzision seines Rapports zum Trotz, in hohem Maße unzuverlässig. Genaue Zeitangaben, die manche Passsagen einleiten, führen ins Leere, und der parataktische Stil suggeriert bis zum Ende des Romans eine Sicherheit, die sich immer offenkundiger als eine falsche herausstellt - angesichts des Umstandes, dass wir es mit einem Protagonisten zu tun haben, dem die Täuschung zur zweiten Natur geworden ist, kein Wunder. "Alles ist in Ordnung", scheint sich Hagner selbst zu beruhigen. "Du sitzt hier und schreibst und schreibst in deiner kleinen, für dich selber kaum noch zu entziffernden Schrift."

So entsteht ein Text, der ein riskantes Terrain erkundet. Bossert rekrutiert Hagner für einen Kampf, dessen Ziel ein dauerhafter Kommunismus zu sein scheint. Gescheitert sei nur die "Generalprobe". "Sie lehrt uns", predigt er seinem folgsamen Schüler, "dass die Kapitulation vor dem schwachen Fleisch nichts Bleibendes hervorbringen kann, und deshalb lehrt sie uns, das schwache Fleisch zu verachten. Sie erinnert uns an die Notwendigkeit, das schwache Fleisch zu überwinden." So wird Hagner im wahrsten Sinne des Wortes "eingeweiht". Später kann er nicht mehr sagen, ob er das Gesagte noch richtig erinnert oder vielleicht etwas hinzugefügt hat, so sehr ist es ein Teil von ihm geworden. Hagner ist ein "soldatischer Mann", so wie ihn Klaus Theweleit vor dreißig Jahren in seiner zum Klassikger avancierten Studie "Männerphantasien" beschrieben und analysiert hat. Mit dem Unterschied allerdings, dass Theweleit sein Material vor allem aus den Aufzeichnungen rechtsradikaler Freikorpskämpfer gewann. Dass vergleichbare Strukturen unter politisch entgegengesetzten Vorzeichen existieren mochten, war durchaus Gegenstand manch einer Fußnote, wenn er beispielsweise davon spricht, dass es "eine der Lieblingsbeschäftigungen des offiziellen Kommunismus" gewesen sei, "die Sümpfe der Reaktion auszutrocknen, die Luft von ihrem üblen Gestank zu reinigen". Doch das konnte man leicht überlesen.

Michael Sollorz hingegen spart nicht an eindeutigen Zeichen. "Meine Pädagogik ist hart", lautet der Beginn eines Zitates, das sein Protagonist in einem Buch findet, das sich mit Fragen der Erziehung beschäftigt. Als Hagner es einem Justizwachtmeister, der in dem Gerichtssaal, wo er sich als Schöffe (oder Angeklagter, das bleibt offen) einzufinden hat, vorliest, "schnaufte" dieser "erregt". Und etwas "blitzte überraschend" auf. Offenbar verfehlt die Rede von der "gewalttätigen, herrischen, unerschrockenen, grausamen Jugend" ihre Wirkung auf einen sechzigjährigen gutmütigen gelernten Baumaschinisten, "zehn Jahre bei einer Panzerdivision im Bezirk Brandenburg", ebenso wenig wie auf die Massen, die dem Urheber des Zitats zwischen 1933 und 1945 zujubelten.

Lars Hagner ist ein klinischer, aber symptomatischer Fall. Seine abstrakte Sehnsucht nach Gemeinschaft macht ihn manipulierbar. Sein Idealismus hat den Beigeschmack falscher Landser-Romantik, gepaart mit der Verbitterung der Enttäuschten. Verachtung und Hass hat er übrig für jene, die er für sein Unglück verantwortlich macht. "Nun bezahlte ich dafür, sie nicht mit Klauen und Zähnen bekämpft zu haben, diese Männer wie meinen Vater. Sie hatten das Land verramscht. Die feindliche Übernahme war ohne Blutvergießen erfolgt. Sie hatten meine Zukunft weggegeben. Mich hatte keiner gefragt. Ich saß gefangen."

Michael Sollorz ist ein bemerkenswertes, im besten Sinne irritierendes Buch gelungen, das die gefährliche Ambivalenz von jugendlichem Idealismus sprachlich virtuos nachvollzieht. So dringt er zum Kern einer spezifisch deutschen Misere vor, deren Ende (leider) nicht abzusehen ist.

Michael Sollorz Die Eignung. Roman. Verlag Männerschwarm, Hamburg 2008, 158 S., 16,80 EUR

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