Fahrt ins Licht

Ost-West-Dialog Ulrich Woelks Kriminalroman »Die letzte Vorstellung« erzählt vor allem von deutschen Befindlichkeiten

Im Grunde sind wir Journalisten die Hüter der Realität im Zeitalter ihrer höchsten Gefährdung durch die virtuelle Beliebigkeit der Pseudoinformation in den Datennetzen. Irgendwann wird man uns danken, dieses Zeitalter für die Geschichtsschreibung gerettet und nicht etwa den Schriftstellern überlassen zu haben, denen die Realität bekanntermaßen ein Dorn im Auge ist und die sie verachten.« Wer so selbstbewusst daherschwadroniert ist natürlich kein echter Journalist, sondern ein fiktiver. Die Erfindung eines Schriftstellers, der, nicht erst mit seinem neuen Buch beweisen möchte, dass er sich sehr wohl für die Wirklichkeit interessiert.

Nachdem sich der 1960 geborene Ulrich Woelk in seinem erst 2002 erschienenen Roman Liebespaare an einem Sittenbild unserer Lebens- und Liebesverhältnisse im ausgehenden 20. Jahrhundert versucht hat, widmet er sich nun wieder der Zeitgeschichte. Die deutsche Wiedervereinigung, Stasi-Machenschaften und vor allem die Nachwirkungen des linksradikalen Terrorismus der siebziger Jahre sind die - man muss es wohl so sagen - Themen, mit denen sich Woelks neuer Roman Die letzte Vorstellung auseinandersetzt. Dass er dafür einen Ausflug ins Kriminalgenre macht, ist nicht sehr verwunderlich. Schließlich genießt der Kriminalroman nicht erst seit gestern den Ruf, sich besonders gut als erzählerisches Vehikel zur Darstellung gesellschaftlicher Problemlagen zu eignen. Und haben nicht erst in letzter Zeit Autoren wie Ulrich Ritzel (Die schwarzen Ränder der Glut), Anne Chaplet (Die Fotografin) und Franz Maria Sonner (Die Bibliothek des Attentäters) gezeigt, welches Stoffpotential die alten RAF-Geschichten auch Jahrzehnte später noch zu bieten haben?

Und nun erzählt auch Ulrich Woelk von der Macht der Vergangenheit über die Gegenwart. Die Geschichte beginnt, wie es sich für einen Kriminalroman gehört, mit einem zünftigen Mord. Das ehemalige RAF-Mitglied Hans Jacobi wird durch Zufall von einem joggenden Pfarrer tot in seinem Haus an der friesischen Nordseeküste aufgefunden. Mit Klebeband an einen Stuhl gefesselt, ist Jacobi durch einen Kopfschuss förmlich hingerichtet worden. Außerdem hat der Mörder ein Zeichen hinterlassen: Aus den Lautsprechern der Stereoanlage erschallt, wahrscheinlich schon seit einiger Zeit, eine Aufnahme von Mozarts Zauberflöte. Was hat das alles zu bedeuten? Der ermittelnde Kriminalbeamte Anton Glauberg scheint vor einem nur schwer zu lösenden Rätsel zu stehen. Und seine Arbeit wird dem mürrischen Eigenbrötler Anfang 40 durch die Ankunft der zehn Jahre jüngeren BKA-Kollegin Paula Reinhardt nicht leichter gemacht. Die in der ehemaligen DDR aufgewachsene Karrierepolizistin und der Provinzermittler geraten sich, ohne Zeit zu verlieren, in die Haare. Auch die anschließenden gemeinsamen Nachforschungen in Berlin sind nicht geeignet, das Verhältnis entscheidend zu verbessern, zumal sowohl Reinhardt als auch Glauberg sehr ökonomisch mit ihrem Vorwissen und ihren Erkenntnissen umgehen.

Die Ermittlungen führen übrigens blitzschnell zurück in die Geschichte der beiden deutschen Staaten vor 1990, gehörte Hans Jacobi doch zu jenen RAF-Mitgliedern, die sich der Strafverfolgung durch die westdeutschen Behörden durch Übersiedlung in die DDR entzogen. Weitere handlungsbezogene Hinweise sollen hier unterbleiben, um potenziellen Lesern das Vergnügen an den Überraschungsmomenten eines nicht ungeschickt ausgetüftelten Krimi-Plots zu bewahren.

Doch spannende Unterhaltung zu liefern, war wohl nicht das primäre Ziel des Autors; in diesem Roman scheint es eher um die epische Rekonstruktion von Zeitgeschichte zu gehen. Während sich nämlich die individuelle Charakterisierung der beiden Hauptfiguren schon bald als Ansammlung all jener Klischees entpuppt, die das Genre mit sich bringt, sind es offenbar ihre repräsentativen Züge, auf die Ulrich Woelk Wert legt. Paula Reinhardts Einstellung zum linken Terrorismus ist geprägt von ihrer DDR-Erfahrung, Anton Glauberg hingegen sieht, schon aus hier nicht weiter zu erläuternden biographischen Gründen, einiges anders. So sind die verbalen Scharmützel der beiden eben nicht das Vorgeplänkel zu einer wunderbaren Freundschaft, sondern ein, oft ideologisch grundierter, Ost-West-Dialog. Und eben diese Tendenz zum Diskursiven nimmt im weiteren Verlauf des Romans leider überhand. Besonders deutlich wird dies in den Vernehmungen, die Glauberg und Reinhardt in Berlin führen. Keiner der Befragten, sei es ein ehemaliger Stasi-Oberst, Hans Jacobis geschiedene Frau, ein Polizeispitzel aus der autonomen Szene oder der zu Anfang zitierte zynische Journalist, begnügt sich damit, einfach die Fragen der Ermittler zu beantworten. Statt dessen erhalten diese Figuren die Möglichkeit, seitenweise ihre Weltsicht auszubreiten, und es lässt den Leser der Verdacht nicht los, dass es Ulrich Woelk mehr um die kontrastierende Darstellung dieser, manchmal ins Karikaturenhafte abgleitende, Wirklichkeitskonzepte zu tun war als um seine Erzählung. Tatsächlich tragen die meisten Vernehmungen auch wenig zur Auflösung des Falles bei; diese spielt sich, wie am Ende bekannt gegeben wird, weitgehend im Verborgenen ab. Das wirkt sich durchaus förderlich auf die Spannungsentwicklung aus, hinterlässt aber nach Beendigung der Lektüre das leicht schale Gefühl, vom Erzähler ein wenig hinters Licht geführt worden zu sein. Am Ende gewinnt eben auch die Kriminalhandlung repräsentative Züge und wird sehr bedeutungstragend.

Schon einmal, in dem 1993 erschienenen Roman Rückspiel, ließ Woelk einen, wie Glauberg und er selbst 1960 geborenen, also damals noch recht jungen Mann nach Berlin ziehen, um aus einem »Band der Ereignisse« eine »kontinuierliche und schlüssige Geschichte« zu formen. Zu rekonstruieren waren sowohl Geschehnisse aus der Zeit des Nationalsozialismus wie aus den Jahren der 68er-Rebellion. Am Ende des Buches sitzt der Erzähler resigniert oder auch befreit vor seiner Schreibmaschine: »Es ist keine Geschichte mehr, keine Reflexion, es ist nur noch das, was im Moment kommt und im nächsten schon wieder vergangen ist.« Er hat herausgefunden, dass vieles nicht so ist, wie es scheint, dass das Vergangene sich eindeutigen Interpretationen entzieht. Glauberg hingegen hat, kurz vor der Auflösung des Mordfalles, »ein klares Wissen von dem, was zu tun sein würde«. Doch das ist nur eine kurzzeitige Gewissheit, denn »stets scheinen sich die logischen Zusammenhänge aufzulösen bei ihrer Reise in die Vergangenheit«. Und ob sie sich im Erzählvorgang wieder herstellen lassen, darauf gibt dieser Zeitgeschichtsroman im Krimigewand keine eindeutige Antwort. Wenn Glauberg am Ende des Buches das Licht sieht, bleibt die Frage, ob es sich um das Licht der Aufklärung oder das des Glaubens handelt, offen.

Ulrich Woelk: Die letzte Vorstellung. Roman. Hoffmann Campe. Hamburg 2002, 304 S., 19,90 EUR

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